Wie ein Häufchen Elend kauerte der Angeklagte am Dienstagmorgen auf der Anklagebank. Er hatte allen Grund dazu. Nach langen Jahren geprägt von schwerer Drogensucht und dazugehörender Beschaffungskriminalität hatte es für ihn im Sommer 2006 erstmals wieder etwas besser ausgesehen. 17 Monate Therapie hatte er zu diesem Zeitpunkt in der forensischen Klinik des Lohrer Bezirkskrankenhauses (BKH) hinter sich gebracht. Die Ärzte bezeichneten ihn in einem Gutachten als „allzeit zuverlässig und absprachefähig“. Die Therapie sei erfolgreich gewesen, so das Urteil der Fachleute. Deswegen hatte man dem Angeklagten bereits unbegleitete Ausgänge auf dem Gelände des BKH gestattet, quasi als letzte Erprobung vor der Entlassung in eine sozialtherapeutische Einrichtung und somit in die Freiheit.
Nur wenige Tage vor dieser Entlassung nahm das Verhängnis seinen hemmungslosen Lauf: Auf einem seiner Ausgänge lernte der Angeklagte eine junge Frau kennen, ebenfalls eine Patientin im BKH. Kurz darauf kamen sich die beiden in einer Behindertentoilette ganz besonders nahe. Dass er an chronischer Hepatitis C erkrankt ist, verschwieg der Mann der Frau. Dabei hatten ihn die Ärzte zuvor mehrfach ermahnt, Sex-Partnerinnen über die Erkrankung zu informieren und Kondome zu verwenden.
Doch all das unterließ der Angeklagte. Binnen einer Woche gleich in vier weiteren Fällen. Auch als es kurz darauf auf dem weitläufigen Gelände des BKH in zwei weiteren Fällen mit einer anderen jungen Frau zu Intimitäten kam, dachte der Angeklagte nicht an die Benutzung eines Kondoms. Auf die Frage, ob er ansteckende Krankheiten habe, log er seine neue Liebschaft sogar bewusst an.
„Das war auf jeden Fall ein Fehler. Ich bereue das“, gab sich der Angeklagte vor Gericht schuldbewusst. Er habe „die Krankheit nicht ernst genommen“. Außerdem hätten ihm Hepatitis-C-erfahrene Mitpatienten gesagt, dass die Ansteckungsgefahr beim Geschlechtsverkehr äußerst gering sei. „Ich bin davon ausgegangen, dass nichts passieren kann“, erklärte der Angeklagte sein Verhalten.
Das hatte ihm damals den Abbruch aller Therapien und die sofortige Verlegung in das Gefängnis beschert. Dort sitzt der 33-Jährige nun seit einem Jahr eine Haftstrafe aus einer früheren Verurteilung ab.
Mittlerweile haben Untersuchungen ergeben, dass sich die beiden Frauen beim Geschlechtsverkehr nicht infiziert haben. Glück für sie. Glück aber auch für den Angeklagten. Denn hätte er die Krankheit tatsächlich weitergegeben, hätte die Anklage nicht auf versuchte, sondern auf vollendete gefährliche Körperverletzung gelautet. Aber auch so wollte der Staatsanwalt den Fall „nicht als minder schwer bewerten“. Der Angeklagte habe eine Ansteckung der Frauen „billigend in Kauf genommen“. Daher sei eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten ohne Bewährung angemessen, so der Staatsanwalt.
Der Verteidiger des Angeklagten hielt das für zu hoch. Man müsse seinem Mandanten zugute halten, dass er mit seinem Geständnis den beiden Frauen den Auftritt im Zeugenstand erspart habe. Daneben trügen die Sex-Partnerinnen „erhebliche Mitschuld“. Beide hätten gewusst, dass der Angeklagte ein ehemaliger Drogenabhängiger gewesen und eine Erkrankung an Hepatitis-C deswegen nahe liegend sei. Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung der Krankheit per Geschlechtsverkehr unter einem Prozent liege. Überdies müsse man sich über die Zustände innerhalb des BKH wundern, so der Verteidiger. Es sei in seinen Augen jedenfalls „nicht nachvollziehbar, wie ein Patient der forensischen Klinik Kontakt zu ganz normalen Patientinnen haben kann.“ Es müsse doch klar sein, dass nach eineinhalb Jahren hinter verschlossenen Türen „gewisse menschliche Bedürfnisse da sind“. Diese Bedürfnisse seien durch den Freigang geradezu noch genährt worden, so der Vorwurf des Verteidigers. Er schlug schließlich eine Bewährungsstrafe von einem Jahr vor.
Die Richterin orientierte sich in der Mitte. Die Bemessung der Strafe sei „gar nicht so einfach gewesen“, sagte sie. Vor allem über die Frage, ob die Strafe noch einmal zur Bewährung ausgesetzt werden sollte, habe man sich intensiv den Kopf zerbrochen. Hier habe den Ausschlag gegeben, dass der Angeklagte eine neuerliche Suchttherapie in Aussicht hatte. „Es ist besser, wenn sie die machen, statt weiter im Gefängnis zu sitzen“, sagte die Richterin zu dem 33-jährigen. Sollte er die Therapie wie zwei andere zuvor jedoch abbrechen, muss er die Haftstrafe antreten.