Das Poesiealbum. Leicht verstaubt und versteckt steht es im Regal und wartet darauf herausgekramt zu werden. Zum Welttag der Poesie haben verschiedene Generationen das für uns getan. Heraus kam: Großartig verändert hat sich zwischen 1936 und 2010 an dem Büchlein nichts. Es ist nur ein bisschen aus der Mode gekommen.
„Das war eine Fragerei damals nach den Büchern!“ Rita Schuler sitzt auf dem Ledersofa im Karlstadter Altenheim, in der Hand das handliche Lederbüchlein. Gleich auf der ersten Seite begrüßt eine Zeichnung von Jesus und der Spruch „Gottessegen“. Die meisten Einträge stammen aus dem Jahr 1936. Der Inhalt ist meist religiös, illustriert mit Engeln und Marienbildchen. Geschrieben wurde in der deutschen Sütterlin-Schrift. Exakt, akkurat, ordentlich – so strotzt ein Denkspruch nach dem nächsten mit perfektem Schriftbild. „Darauf wurde viel Wert gelegt damals“, erzählt die 89-Jährige. Und wenn die Klaue dem Lehrer nicht gefiel – ratsch! – durfte der Schüler von Neuem beginnen.
Liebeserklärungen von Freundinnen (Wenn du eine Freundin suchst, dann such dir eine echte, denn unter 100 Freundinnen sind 99 schlechte), unbeholfene Sprüche von Jungs (Schlecht ist‘s geschrieben, doch gut ist‘s gemeint, drum schreib ich dir in dies Büchlein hinein) und weise Lehrer-Sprüche (Vorsätze sind wie Aale – leicht zu fassen, aber schwer zu halten) – ab den 60er und 70er Jahren ist es mit der reinen Sittsamkeit im Poesiealbum vorbei, es wird bunt und launisch. Es wird gemalt, geklebt und gekrickelt. Sprüche in Lineal-Ideal-Linie? Ade.
Ein Spruch aber hält sich, dem Chaos zum Trotz: „Liebe Freunde groß und klein, haltet mir mein Album rein, reißt mir keine Blätter raus, sonst ist es mit der Freundschaft aus“, begrüßt auch Sylvia Glosemeyer 1969 ihre Poesiealbum-Besucher. Gefolgt von „Wer mir in dies Büchlein schreibt, den bitte ich um Sauberkeit“ ziert der Spruch fast jedes Album. Heute heißt die 48-Jährige Beck und arbeitet im Sekretariat der Realschule Karlstadt. Das lilafarbene Büchlein bekam sie zum Schulstart. Bis zur 5. Klasse wanderte es durch die Hände von Freunden und Lehrern. Einmal landete es sogar in der Büchertasche eines Neuntklässlers. Heimlich! „Wir waren sieben, acht Mädchen und schwärmten alle für diesen Jungen“, erzählt sie. Das Büchlein kam zurück. Mit dem Kommentar, sich doch in drei Jahren noch einmal zu melden. „Der ist bis heute nicht verheiratet“, erzählt Sylvia Beck und lacht.
Und wo sind heute die Poesiealben? Und deren Schreiber? „Ich habe jahrelang nichts mehr bekommen“, sagt Johanna Meyer, Konrektorin und Deutschlehrerin an der Realschule Karlstadt. Gerade bei den jüngeren Klassen hat sie früher oft reingeschrieben. Seit 2003 aber sind die Einträge verebbt.
Nachgefragt in der 6. Klasse kommen ganze drei Alben zutage. Das eine ziert Prinzessin Lillifee, das andere die Diddl-Maus. Vielleicht sind das die Gründe, warum die Bücher unter 14-Jährigen nicht mehr wirklich beliebt sind? „In der Grundschule haben wir so etwas trendmäßig rumgehen lassen“, sagt die 15-jährige Büsra Coliskan. Heute schaut sie sich die Bücher nur noch mit ihren Freundinnen zusammen an – und lacht über die Schreibfehler. Dabei ist das Thema Poesie nicht uninteressanter geworden. „Wir drucken uns gegenseitig Gedichte aus dem Internet aus und versehen sie mit Namen“, sagt die 14-jährige Lorena Hofmann. Oder sie schreiben eigene Gedichte wie Alexandra Dobringer, ebenfalls 14. Die bekommen allerdings nur Freunde zu Gesicht.
Warum wollen sie nicht wieder die Tradition des Poesiealbums aufleben lassen? Ohne Diddl-Maus, ohne Prinzessin Lillifee, dafür mit guten Inhalten? „Ich bin mir sicher, wenn wer damit anfinge, käme das ganz schnell wieder in Mode“, sagt Alexandra. Sie sollten es tun, denn: Wenn du einst nach langen Jahren dieses Büchlein nimmst zur Hand, denk daran, wie froh wir waren in der kleinen Schülerbank.