Ziemlich starken Tobak mutete der Bonner Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut und Autor Michael Winterhoff in der Aula der Mittelschule Karlstadt rund 200 Erzieherinnen und Lehrkräften zu. Zentrales Thema war die emotionale und soziale Entwicklung unser Kinder. Organisatoren des Vortrags waren die Kreisverbände Main-Spessarts des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV).
„Was mich umtreibt, ist die Sorge um die Zukunft unserer Kinder!“, sagte Winterhoff und bezog sich dabei auf den Entwicklungsstand zahlreicher junger Menschen, der immer häufiger nicht ihrem tatsächlichen Alter entspreche. Noch vor 20 Jahren habe man sich darauf verlassen können, dass zum Beispiel sechsjährige Kinder wie Sechsjährige entwickelt und entsprechend schulreif waren.
Heute aber befänden sich viele der künftigen Erstklässler sozial und emotional auf dem Stand eines Kindes unter zwei Jahren, jedes zweite von ihnen sei sogar schon vor der Einschulung in Therapie. In der Schulzeit erwiesen sich viele der Schüler als unfähig zur Ausdauer, Lernbereitschaft und sozialer Kompetenz. Letztendlich zeigten die Klagen von Ausbildungsbetrieben, dass die Hälfte der Schulabgänger nicht in der Lage sei, arbeiten zu gehen.
Einen Grund dafür sieht der Psychiater in der veränderten Sichtweise auf das Kind durch die Eltern und auch durch die Gesellschaft. Die „Demokratisierung“ habe inzwischen auch Einzug in die Kinderzimmer genommen, moniert er. Kinder lernten heute nicht mehr zu verzichten, Erziehung erfolge zu sehr nach dem reinen Lustprinzip und die Kleinen würden schon viel zu früh in Entscheidungen mit einbezogen, die sie entsprechend ihres Reifegrades völlig überforderten.
Als Beleg dafür nannte der Referent, dass schon die Jüngsten in Kindergärten als „Kleine Persönlichkeiten“, quasi kleine Erwachsene angesehen würden, die ständig zwischen verschiedenen Beschäftigungsangeboten wählen dürften – oder besser müssten.
Zugrunde gelegt wird dies durch die „moderne Erziehungsphilosophie“: Eltern wollen Partner ihrer Kinder sein und gestehen ihnen deshalb mehr Freiheiten und Rechte zu, als sie brauchen und ertragen.
Sie sehen in den Kindern bedürftige Wesen, denen sie ihre eigenen verdrängten und enttäuschten Wünsche erfüllen: nach lustbetontem Alltag, nach Entspannung und Freiheit von Zwang und machten so aus der Kindheit jene Wellness-Oase, nach der sie selbst sich sehnen.
Symbiose nennt Winterhoff dieses Erziehungsproblem. Solche Eltern, meint er, unterscheiden kaum zwischen sich und dem Kind, sie sehen es gewissermaßen als Teil ihrer selbst – wie einen Arm. So wie die Mutter einer Dreijährigen, die während einer Beratung auf den Schoß der Mutter klettert, ihr ins Gesicht greift, sie unterbricht. Die Störung liegt auch bei der Mutter: Sie empfindet ihr Kind noch als Baby, quasi als eigenen Körperteil, eine unbewusste Fortsetzung ihrer selbst; sie mutet weder sich noch ihrem Kind eine Zurechtweisung zu.
Emotionale Entwicklung brauche aber unbedingt das Gegenüber. Schon kleinen Kindern und noch vielmehr den älteren müsse die Abgrenzung – hier Erwachsener, hier Zögling – klar sein. Eindeutige Regeln, immer wieder kehrende Rituale – zum Beispiel beim Zubettgehen – und begründete, nachvollziehbare Entscheidungen der Erwachsenen seien vonnöten. Kinder brauchen Anleitungen und den Bezug zur reifen Person.
Wenn aber neben vielen Eltern jetzt auch professionelle Einrichtungen wie Kindergärten und Grundschulen diese Tendenz verstärkten, den Lehrer weniger als Richtungsweiser, sondern als „Lernbegleiter und Coach“ sähen und immer mehr Kinder der sogenannten Selbstbestimmung oder Beliebigkeit überließen, bestehe die Gefahr, noch mehr junge unentwickelte Menschen zu verlieren.