In den meisten Geschichtsbüchern, in denen das Thema Reformation nur als eines von vielen Kapiteln der Geschichte abgehandelt wird, kommt Andreas Bodenstein, genannt Dr. Carlstadt, nicht gut weg. Er wird als „Schwarmgeist“ und „Hitzkopf“ geschildert; man wirft ihm Bilderstürmerei vor. Ein viel differenzierteres Bild vermittelte Barbara Wolf in einem Vortrag der Volkshochschule und des Geschichts- und Museumsvereins im Alten Rathaus.
Wolf, freie Journalistin, lebt seit 1972 in Karlstadt und ist Mitarbeiterin in der Geschichtswerkstatt Karlstadt. 2016 veröffentlichte sie die Ergebnisse umfangreicher Recherchen unter dem Titel „Carlstadt contra Luther – Sie wollten nur die Reformation“. Dass sie dafür die Form eines Historienromans wählte, begründete sie damit, dass sie die für eine wissenschaftliche Arbeit erforderliche umfangreiche Dokumentation der Quellen scheute. Zudem schrecke ein solch umfangreicher Anmerkungs-Apparat viele potenzielle Leser nur ab.
Andreas Bodenstein wurde 1482 in Karlstadt geboren. Sein Vater stammte aus einer ursprünglich adeligen Familie, war Wirt und zeitweilig Bürgermeister von Karlstadt. Andreas studierte in Erfurt, anschließend in Köln, wurde 1510 zum Priester geweiht und erwarb die Doktorwürde. Seitdem nannte er sich Dr. Carlstadt.
Bei einem Besuch in seiner Vaterstadt, wo er den Primizsegen spendete, wurde er bei Eußenheim überfallen. In Todesangst gelobte er eine Wallfahrt nach Rom, die er aber zunächst aufschieben musste. Er wurde Archidiakon In Wittenberg und war 1512 der Doktorvater Martin Luthers.
1515, nach dem Tod seines Vaters, trat Carlstadt seine Romreise an. Wegen Geldmangel verdingte er sich als Kopist bei der Kurie. Dabei lernte er die Auswüchse des Ablasswesens kennen. Nach Wittenberg zurückgekehrt erwarb er auch den Doktortitel beider Rechte.
152 Thesen
Im März 1517 veröffentlichte er eine Schrift über die „wahre und falsche Buße“ und fasste seine Kritik in 152 Thesen zusammen – ein halbes Jahr bevor Martin Luther seine 95 Thesen zum Ablass zur Diskussion stellte. Bodenstein nahm auch an der Leipziger Disputation mit Doktor Johannes Eck teil. Die päpstliche Bannandrohung gegen Luther richte sich auch gegen ihn und seinen Karlstadter Landsmann Johannes Drach.
Zunehmend geriet Dr. Carlstadt aber in Streit mit Luther. Der reagierte, indem er seine Empfehlung für ihn als Propst zurückzog. Unterschiedliche Auffassungen vertraten die beiden vor allem in der Abendmahlsfrage, wo Luther – im Gegensatz zu Bodenstein – an der Auffassung der katholischen Kirche von der Realpräsenz Christi festhielt. 1521 wurde Dr. Carlstadt Berater des dänischen Königs Christian. 1622 heiratete er Anna von Mochau.
Während sich Luther beim Reichstag aufhielt und anschließend auf der Wartburg versteckte, war Carlstadt an der Erarbeitung einer Wittenberger Stadtordnung beteiligt, wobei ihm vor allem das Armenwesen am Herzen lag.
Reformen rückgängig gemacht
1522 kehrte Luther nach Wittenberg zurück. Unter seinem Einfluss wurden viele der Reformen, die Carlstadt eingeführt hatte, wieder rückgängig gemacht. Er wurde sogar bezichtigt, ein Wiedertäufer zu sein.
Im September 1522 wurde er aus Wittenberg ausgewiesen. 1524 war er in Rothenburg. Dort wurde er in den Bauernkrieg verwickelt. 1525 gelangt ihm die Flucht über die Stadtmauern nach Thüngen und Thüngersheim. 1525 demütigte er sich vor Luther. Er entschuldigte sich und widerrief sogar seine theologische Auffassung im Abendmahlsstreit. 1526 wurden Luthers Freunde Justus Jonas und Philipp Melanchthon sowie seine Frau Katharina Taufpaten von Carlstadts zweitem Sohn Jakob. Das hinderte Luther und Georg Spalatin nicht daran, alles zu tilgen, was mit Carlstadt zu tun hatte. Der suchte für sich und seine Familie eine neue dauerhafte Bleibe, wurde aber 1929 aus Kiel als angeblicher Sektierer vertrieben, 1530 in Straßburg und in Basel nicht aufgenommen; Schließlich half ihm Huldrych Zwingli in Zürich. 1534 wurde er in Basel Professor, 1537 sogar Rektor der Universität. Dort brach 1541 die Pest aus.
Ihr fiel Andreas Bodenstein am 24. Dezember 1541 zum Opfer. Am Weihnachtsfeiertag trug ihn ein großer Trauerzug zu Grabe. Der Humanist Heinrich Pantaleon widmete ihm die Zeilen: „Der Carlstadt, den Franken einst schickte, ist tot, der Schweizer Ruhm, Ehre und Zierde.“