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Bad Mergentheim: Die Welt ist ins Trudeln geraten: Judith Hermanns "Daheim"

Bad Mergentheim

Die Welt ist ins Trudeln geraten: Judith Hermanns "Daheim"

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    Dem Sog des Schreibens erlegen: Judith Hermann bei der Vorstellung ihres Romans "Daheim" in der Wandelhalle.
    Dem Sog des Schreibens erlegen: Judith Hermann bei der Vorstellung ihres Romans "Daheim" in der Wandelhalle. Foto: Felix Röttger

    Statt bei Vogelgezwitscher lässig-entspannt im Klanggarten des Kurparks Bad Mergentheim zu sitzen, ging es zur Eröffnung des Sommerfestivals "Literatur im Schloss" mit der preisgekrönten Autorin Judith Hermann am Donnerstagabend witterungsbedingt in die benachbarte Wandelhalle, was der guten Stimmung keinen Abbruch tat.

    Museumsdirektorin Maike Trentin-Meyer hob in ihrer Begrüßung die Unterstützung eines großen Sponsorenpools hervor, der das von Ulrich Rüdenauer kuratierte Sommerfestival erst möglich machte. Die Moderatorin Beatrice Faßbender hatte mit ihrem charmanten Auftreten keine Probleme, das an Bistrotischen sitzende Publikum noch vor Beginn der Lesung zum Aufsetzen des Mundschutzes zu bewegen.

    Von der etwa mit dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichneten Schriftstellerin Hermann, die bereits zum fünften Mal bei "Literatur im Schloss" zu Gast war, wurde der neue Roman "Daheim" vorgestellt. Die Redakteurin, Übersetzerin und Lektorin Beatrice Faßbender hatte gleich zweimal  das Buch gelesen und immer neue Facetten des Romans entdeckt.

    Aufschlussreiche Einblicke in den Entstehungsprozess

    Judith Hermann, 1970 in Berlin geboren, gab aufschlussreiche Einblicke in den Entstehungsprozess ihrer Geschichte von der namenlosen Ich-Erzählerin, die in mittleren Jahren nach dem Auszug der Tochter und der Trennung von ihrem Mann in einem einfachen Haus am Meer in Friesland einen Neuanfang wagt. Die Tonlage des Romans, aus dem die Autorin drei Auszüge mit angenehm-sonorer, für die Mikrofonanlage weniger geeigneter Stimmlage vorlas, erinnert an Hermanns ersten Erzählband "Sommerhaus, später", mit dem sie 1998 einen der größten Erfolge der neueren deutschen Gegenwartsliteratur erzielte.

    Damals prognostizierte Marcel Reich-Ranicki im "Literarischen Quartett" der Autorin eine große Zukunft. Und er sollte recht behalten. Als Judith Hermann 2014 beim dritten Besuch in Bad Mergentheim ihren ersten Roman "Aller Liebe Anfang" vorstellte, sah Helmut Böttiger damals in ihr die Stimme der Generation der 25- bis 30-jährigen Berliner, die in "Sommerhaus, später" mit einer "merkwürdigen Mischung von Melancholie und Aufbruchstimmung" etwas Neues ausprobieren wollten.

    Ein Zauberer, der für den Trick mit der zersägten Jungfrau einen Ersatz sucht

    Dieses unbestimmte Gefühl konnte sich Judith Hermann scheinbar bis heute bewahren; nach anfänglichem Zögern habe sie sich "dem Sog des Schreibens ergeben". Diesem Sog konnten sich auch die Zuhörer nicht entziehen, wenn Hermann aus der Vorerzählung ihres Romans von der jungen Frau vorlas, die während ihres Jobs in einer Zigarettenfabrik in einer Großstadt an einer Tankstelle von einem Herrn in Schlangenlederschuhen angesprochen wird. Ein Zauberer, der für den Trick mit der zersägten Jungfrau einen Ersatz für seine alternde Ehefrau sucht. Auf einen Versuch im Hause des Zauberers lässt sich die Protagonistin ein, nicht aber auf die geplanten Auftritte auf einer Kreuzfahrt mit Touristen nach Singapur.

    Gesprächsweise wurde dann das Figurenpersonal dieses Romans vorgestellt: Ihr Ex-Mann Otis, ihr egozentrischer Bruder und Kneipenwirt mit einem Faible für die junge Kellnerin Nike, die von der Erzählerin arg vermisste Tochter Ann auf einer Schiffsreise um die Welt, ihre herzliche Nachbarin Mimi, eine Künstlerin, und deren Bruder Arild, einem Schweinezüchter, nebst deren Eltern Onno und Amke. Hermann las die Episode vor, in der die Erzählerin ein kurzes Liebesverhältnis mit Arild beginnt.

    Den ursprünglich gedachten Titel  lehnte der Verlag ab

    Eigentlich hatte Judith Hermann für ihren Roman den Arbeitstitel "Falle" angedacht, doch ihr Verlag war dagegen. Nach einem assoziativen Brainstorming sei dann daraus der Buchtitel "Daheim" geworden. Tatsächlich klang an diesem Abend immer wieder das Thema Verwurzelung und die Frage an, ob es nicht überall möglich sei, Wurzeln zu schlagen und heimisch zu werden. Was Hermanns Hauptfigur umfängt, ist eine melancholisch gefärbte, irgendwie eher ratlose Aufbruchstimmung, die auf meditativ-hypnotische Weise innere Kräfte für einen Neuanfang zur Entfaltung bringt.  

    Zwei prägnante Sätze von ihr blieben an diesem Abend haften: "Die Welt ist ins Trudeln geraten. Kann ich darüber schreiben?" Einen tröstlichen Ausweg fand die Autorin in ihrem Roman: "Alle sind solitär unterwegs, trotzdem begegnen sie sich."

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