„Auf immer vergessen?“ Dieser Frage ging eine Veranstaltung des Familienzentrums Grünsfeld-Wittighausen anlässlich des Holocaust-Gedenktages nach. Franz Ködel hatte sich auf Spurensuche begeben. Im ökumenischen Gemeindehaus erinnerte er an ehemalige jüdische Bürger und ihr Schicksal. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand Hugo Schiller, dem es unter dramatischen Umständen gelang, in die Vereinigten Staaten zu entkommen.
Unterstützung erhielt Ködel von Florian Christ, Dominik Hehn und Frank Kaltenbach. Die drei jungen Erwachsenen und Sabine Hehn vom katholischen Gemeindeteam trugen Zeugnisse und Dokumente aus Schillers Autobiographie vor. Für besinnliche Momente sorgte Matthias Ernst aus Würzburg. Mit seiner Klarinette spielte er verschiedene Musikstücke, die zum Nachdenken über das Gehörte einluden.
„Das Familienzentrum hat auch einen Bildungsauftrag“, betonte dessen Leiterin Cornelia Renk. Deshalb sei es nur folgerichtig, einen Vortrag wie den über Hugo Schiller ins Veranstaltungsprogramm zu nehmen. Die Erinnerung ist ihrer Meinung nach ein wichtiger Schritt gegen das Vergessen. „Sie rüttelt auf und hält wach“, betonte Renk. Für sie war klar: „Einen Schlussstrich unter dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte darf es nicht geben.“
Vater war Vorsteher der jüdischen Gemeinde Grünsfeld
Hugo Schiller wurde am 18. August 1931 in Grünsfeld geboren. In seiner Autobiographie beschreibt er, wie die Nationalsozialisten nach und nach sein Leben und das seiner Familie beeinträchtigt haben. „Weil ich ein Kind war, hätte ich mir nie träumen lassen, dass es Leute geben könnte, die mich nicht lieben“, ist dort zu lesen.
Hugo Schiller stammte aus einer angesehenen Familie. Die Familie seiner Mutter Selma lebte seit dem 16. Jahrhundert in Grünsfeld. Vater Oskar Friedrich Schiller war Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Die Familie betrieb ein Geschäft, in dem Kleidung und Kurzwaren zu erwerben waren. Wie selbstverständlich nahm man am gesellschaftlichen Leben teil. „Wir hatten viele gute deutsche Freunde und Bekannte, die uns besuchen kamen“, schreibt Schiller. Die Familie hielt die jüdischen Feiertage ein und feierte sie zusammen mit anderen Familien.
Die jüdische Familie war deutsch-national eingestellt
Man war – wie viele andere Juden dieser Zeit – deutsch-national eingestellt. Der Vater hatte als Major im Ersten Weltkrieg gekämpft und für seine Tapferkeit das Eiserne Kreuz erhalten. Schiller betont: „Wir sprachen deutsch. Wir waren gute, patriotische deutsche Staatsbürger mit einer starken Bindung zu unserem Deutschland.“ Schillers Resümee der frühen Jahre ist eindeutig: „Wir lebten ein sehr gutes Leben. Meine Eltern, Großmutter und Tante Hilda waren glücklich.“
Umso schmerzhafter das Erwachen, als sich Veränderungen bemerkbar machten. Eines Tages zitierte ihn der Rektor zu sich und wies ihn an, alles Papier auf dem Schulgelände einzusammeln. Schiller konnte das nicht verstehen, kam der Aufforderung aber pflichtbewusst nach. Denn: „Ich war ein gehorsamer Junge.“ Nicht verstehen konnte er auch, dass sein nichtjüdischer Freund nicht mehr mit ihm spielen durfte. „Das machte mich traurig“, erinnert Schiller sich.
Offene Gewalt erfuhr die Familie Schiller in der so genannten Reichskristallnacht. Nazis kamen ins Haus der Großmutter, rissen Bilder von der Wand und zerschlugen Möbel. Sie verhafteten Hugo Schillers Vater und brachten ihn ins Konzentrationslager Dachau. „Ich war so verängstigt“, schreibt Schiller. Ein paar Wochen später kehrte der Vater zurück, wurde aber gezwungen, seinen Betrieb zu verkaufen.
In ein KZ am Fuß der Pyrenäen in Frankreich deportiert
1940 wurden Hugo Schiller und seine Eltern in das Konzentrationslager im französischen Gurs am Fuß der Pyrenäen deportiert. In seiner Autobiographie schildert er in drastischen Worten das Lagerleben. „Es war immer kalt, und wir waren hungrig.“ Zwei Mahlzeiten habe es am Tag gegeben, bestehend aus schwarzem Kaffee und Schwarzbrot mit Schmalz zum Frühstück und Suppe mit wenig Gemüse und noch weniger Fleisch zum Abendessen.

Der Mangel an Essen und sauberem Wasser führte dazu, dass viele Menschen an Lungenentzündung, Bronchitis oder Typhus erkrankten und starben. „Ich sah zum ersten Mal tote Menschen“, berichtet Schiller. Weil er eine schöne Stimme hatte und gut singen konnte, bekam er manchmal eine Extra-Ration Brot, die er seiner hungernden Mutter und Tante gab.
Von Quäkern aus dem Lager geholt
Das Jahr 1941 brachte die Wende für Hugo Schiller. Mithilfe von Quäkern, einer religiösen Gemeinschaft mit christlichen Wurzeln, konnte er das Lager in Gurs verlassen. Schiller kam in ein Kinderheim im wenige Kilometer entfernten Aspet. Von dort aus ging es in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf der Pritsche eines Lastwagens nach Marseille, wo Schiller per Schiff nach Casablanca gelangte. Ein Dampfschiff brachte ihn schließlich in die Vereinigten Staaten. Seine Eltern hatten weniger Glück. Beide wurden nach Auschwitz deportiert und im Konzentrationslager umgebracht.
„Die Erinnerung darf nicht enden, wir müssen uns dem Thema stellen“, erklärte Franz Ködel. Der ehemalige Gemeinderat und frühere Realschullehrer beschäftigt sich seit einiger Zeit intensiv mit der Geschichte der Grünsfelder Juden und wirbt für eine angemessene Erinnerungskultur. „Nur so erhalten die Opfer ihre Würde zurück“, ist er überzeugt.
Beispiel dafür sind Stolpersteine. Bereits 2021 wurden mehrere zur Erinnerung an jüdische Frauen und Männer in Grünsfeld verlegt. Im Oktober sollen nach einem Beschluss des Gemeinderates weitere folgen. Ködel ist auch in den Besitz eines Thorazeigers und jüdischen Tafelsilbers gelangt. Er schlug vor, diese historischen Gegenstände der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und sie im Rahmen der Ausstellung zur Stadtgeschichte in einer Vitrine im Leuchtenbergsaal zu präsentieren.