„Wer sexuellen Missbrauch unter den Teppich kehrt, nützt der Kirche am wenigsten.“ Robert Antretter, Vorsitzender der Kommission sexueller Missbrauch der Diözese Rottenburg-Stuttgart, plädierte vor rund 50 Zuhörern im katholischen Gemeindehaus für einen offenen Umgang mit diesem heiklen Thema. Seine Botschaft: „Wir wollen die Opfer schützen – andererseits gilt jeder mutmaßliche Täter als unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils.“
Selbstanzeige eines Priesters
Eingeladen hatte die Katholische Erwachsenenbildung im Dekanat Mergentheim. Rund 70 Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen durch Mitarbeiter der Diözese Rottenburg-Stuttgart habe die von ihm geleitete Kommission seit März 2010 erhalten, berichtete Antretter. Die Mehrzahl der Taten liegt nach seiner Aussage mehr als ein Jahrzehnt zurück, in einem Fall seien es 62 Jahre.
Es handle sich zum einen um „unerwünschte Zärtlichkeiten“ unterschiedlichen Ausmaßes, aber auch um Straftaten bis hin zur Vergewaltigung eines Kindes – verbunden mit lebenslangen Traumata.
Wie Antretter weiter ausführte, sind die meisten Beschuldigten Priester, Priesteramtskandidaten, Diakone oder Ordensmänner. Vereinzelte Anzeigen gebe es auch gegen Nonnen, Mesner oder ehrenamtliche Mitarbeiter. Fast immer hätten sich die mutmaßlichen Opfer an die Kommission gewandt. Es gebe aber auch die Selbstanzeige eines Priesters, der offenbar nicht länger mit seiner bislang nicht eingestandenen Schuld leben konnte.
Die überwiegende Mehrzahl der Opfer erwartet nach Antretters Erfahrung keine Geldzahlung, sondern möchte „reinen Tisch machen und etwas im Leben in Ordnung bringen“. Viele könnten nach Jahrzehnten nun erstmals über das Schreckliche sprechen, das ihnen in jungen Jahren widerfuhr. Sehr bewegend berichtete der Kommissions-Vorsitzende von einer über 70-jährigen Frau, die vor kurzem endlich die Kraft fand, ihrem ahnungslosen Ehemann zu erzählen, dass sie als Jugendliche von einem Priester missbraucht wurde.
Was kann die Kommission konkret tun? Sie nimmt nach Antretters Auskunft wann immer möglich Kontakt zum Beschuldigten und zum mutmaßlichen Opfer auf und überprüft die Vorwürfe gründlich. Jedem Verdacht werde nachgegangen, aber nicht jeder bestätige sich. Anschließend versuchen Antretter und seine Mitstreiter, bei einem Gespräch zwischen Täter und Opfer zu vermitteln. Dadurch werde manchem Geschädigten eine große Last genommen. Andere Opfer, vor allem wenn sie einen Bezug zur Kirche haben, bekämen auf Wunsch die Möglichkeit zum Gespräch mit Bischof Dr. Gebhard Fürst.
„Wir können das geschehene Unrecht nicht heilen, aber wir wollen unser Möglichstes dazu beitragen“, fasste Antretter sein Anliegen zusammen. Nach seinem Eindruck fühlen sich fast alle Opfer, mit denen er Kontakt hatte, durch die Kommission ernst genommen.
Der Redner verschwieg aber nicht die Grenzen und Schwierigkeiten seiner Arbeit. Manchem Täter fehle schlicht das Unrechtsbewusstsein, so dass ein Kontakt mit dem Opfer unmöglich ist. Zudem handle es sich teilweise um angesehene Gemeindepfarrer, die auch viel Positives bewirkt haben, so dass die Gläubigen mit Unverständnis auf Sanktionen reagieren.
Auf dem richtigen Weg
Antretter sah die katholische Kirche in Deutschland auf dem richtigen Weg. Die Bischöfe seien sich einig, dass ein Vertuschen von sexuellem Missbrauch nicht mehr in Frage kommt. „Denn sie wissen: Die bisherige Haltung hat vor allem den Opfern geschadet.“ Hervorzuheben sei, dass es in der Diözese Rottenburg-Stuttgart keinen einzelnen Missbrauchsbeauftragten gibt, sondern eine Kommission mit umfassendem Sachverstand und mit Vorschlagsrecht gegenüber dem Bischof.
„Was den zukünftigen Umgang mit sexuellem Missbrauch angeht, bin ich für unsere Kirche optimistischer als für die Gesellschaft“, so der Referent abschließend.