Ab wann ist Zufall Schicksal? Peter Seifert muss kurz über die Frage lachen. Er erzählt vom 15. März. Welchen Jahres? 2011, 2012, 2013, 2014? Eigentlich egal, denn eines kann man Seiferts Lebensgeschichte sicher attestieren: An diesem Datum hat sie oft genug eine Wendung genommen.
Angefixt nach dem ersten Marathon
Jahresanfang 2011: Peter Seifert ist 28, wohnt in einer WG in Jena und studiert Psychologie. Und er ist in Bestform. Mindestens 120 Kilometer legt er die Woche zurück – zu Fuß. Knapp drei Marathons, jede Woche, mit einem Ziel: Er will der schnellste Langstreckenläufer Deutschlands werden. Siege fährt er schon länger ein, obwohl er erst vor sechs Jahren mit der fixen Idee im Kopf, mal einen Marathon laufen zu wollen, das erste Paar Schuhe gekauft hat. 2006 schaffte er die 42,195 Kilometer. Sein Ziel: wenigstens knapp unter die drei Stunden kommen. Das Ergebnis: 2:42 Stunden.
Angetrieben vom Erfolg
Der Erfolg treibt ihn an. In den Jahren zwischen dem ersten Marathon und dem 15. März 2011 holt er mehr aus sich raus, als er je für möglich gehalten hätte. „Da muss doch noch mehr gehen als die 42 Kilometer“, denkt er sich. Und macht nach der klassischen Distanz nicht Halt, sondern läuft einfach weiter, 45 Kilometer, irgendwann 50 Kilometer am Stück.
Am 5. März 2011 läuft er die 50 000 Meter in 2:52 Stunden. Eine Wahnsinnszeit. Peter Seifert bricht nach 17 Jahren den deutschen Rekord – mit einer Zeit, die selbst für den acht Kilometer kürzeren Marathon immer noch der Traum vieler Hobbyläufer wäre.
Seifert ist motivierter denn je. Die Weltmeisterschaft über 100 Kilometer ist in Aussicht, lukrative Sponsorenverträge winken, ein Leben als Spitzensportler steht ihm bevor. Mit einem Freund fährt er nach Lanzarote – zum Trainieren, was sonst.
Trainingslauf mit dem Freund - dann ist da ein Auto
Auf der Kanareninsel läuft er am 15. März 2011 um die Mittagszeit am Fahrbahnrand einer einsamen Landstraße, sein Kumpel nur anderthalb Meter hinter ihm. Seifert läuft ihm fast davon – wie immer bisher. Und wohl zum letzten Mal.
Eine Autofahrerin fährt die Straße entlang, in die gleiche Richtung wie die beiden Sportler. Seifert und sein Bekannter sind kurz vor einer Ausfahrt. Die Frau blinkt nicht, sie will wohl weiter geradeaus. Seifert und sein Bekannter überqueren die Ausfahrt. Aber die Fahrerin biegt ab.
Von diesem Moment an fehlen Peter Seifert zwei Monate seines Lebens. Er kann sich nicht daran erinnern, wie das Auto ihn seitlich erfasst. Er weiß nicht mehr, wie sein Körper in die Luft geschleudert wird. Wie er auf der Windschutzscheibe mit seinem Kopf aufprallt, auf dem Asphalt aufschlägt. Er kann sich weder an Blut, Schmerzen, Sirenen erinnern, nicht an den Hubschrauber, der ihn auf die Nachbarinsel Gran Canaria ausfliegt. Später wird man ihm erzählen, dass dort, wo einst der Schädelknochen sein Gehirn abschirmte, nur noch „Matsch“ war, wie er es Jahre später ausdrückt. Man wird ihm erzählen, dass er sofort ins künstliche Koma versetzt wurde, dass man anfing, seinen Schädelknochen im Labor nachzuzüchten.
Zwischen Leben und Tod
Das alles passiert in einer Welt, in der sich Peter Seifert in den nächsten Wochen nur als kaputte, körperliche Hülle aufhält. Er schwebt irgendwo zwischen Leben und Tod. Als die Ärzte im April entscheiden, dass er stabil genug für einen Transport nach Deutschland ist, ist Seifert immer noch nicht ins wache Leben zurückgekehrt. In der Klinik in Erfurt angekommen, wollen sie ihn aus dem künstlichen Koma holen. Sein Körper streikt, reagiert nicht, er fällt ins natürliche Koma. „Ich sollte wohl einfach noch weiter schlafen.“
Zwei Monate nach dem Unfall wacht der 28-Jährige auf. Am 4. Juli 2011 wird ihm der künstliche Schädelknochen eingesetzt. „Die Deckelung“ nennt Seifert den Eingriff, er bedient sich des medizinischen Fachjargons, auch wenn der makaber-pragmatisch klingt. Peter Seifert kennt die medizinischen Details und die zeitlichen Abläufe. „Aber ich kann die Dinge, die passiert sind, nicht wirklich in mein Leben einordnen, bis heute nicht.“ Den Zustand nach dem Einsetzen des Schädelknochens und des langsamen Erwachens beschreibt er so: „Es ist, wie wenn man nachts aufwacht. Man weiß am nächsten Morgen, dass da etwas war. Aber man weiß nicht, was es war.“
Ärzteprognose: Pflegefall
Seifert kommt in eine Rehaklinik in Thüringen, ein paar Kilometer nördlich von Erfurt. Die Zeit beschreibt er als eine ungreifbare Mischung aus logopädischer, ergotherapeutischer und physiotherapeutischer Behandlung. „Zu meiner Mutter haben sie damals gesagt, dass ich ein Pflegefall bleiben werde. Noch nicht mal an den Schock, den eine solche Ansage für mich selbst hat sein müssen, kann ich mich erinnern.“
Das erste Mal richtig bewusst, was da passiert war, wird ihm Anfang 2012. Das Sommersemester 2011 ist ohne ihn ins Land gegangen, vom Wintersemester nahm er keine Notiz. Sein Psychologiestudium, in dem er beste Noten hatte, ist in meilenweite Entfernung gerückt. Das Leben in der WG, Freunde, Sponsorenverträge: alles ist nicht mehr da. Was jetzt zählt, ist die Hand zu heben. Mit den Zehen zu wackeln. Irgendwann einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich selbst waschen zu können. Bis kurz vor Weihnachten 2011 bleibt Peter Seifert in der Klinik, dann zieht er wieder bei seinen Eltern in Sachsen ein. An der Haustür geben sich Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Logopäden die Klinke in die Hand.
Laufen lernen, neue Maßstäbe akzeptieren
Peter Seifert lernt, wieder erste Schritte zu laufen, sein alter Ehrgeiz erwacht. Es muss doch möglich sein, einem Körper, der schon solche Spitzenleistungen zutage gebracht hat, wieder eine neue Spitzenleistung zu entlocken – auch wenn die Maßstäbe dieses Mal ganz andere sind. Irgendwann, da muss es doch möglich sein, wenigstens noch einmal ein paar Meter zu laufen?
Es kommt wieder ein 15. März. Der 15. März 2012. Eine junge Physiotherapeutin, Katja, ist an diesem Tag das erste Mal bei Peter Seifert. „Was willst du erreichen?“ fragt sie ihn. „Ich will laufen“, sagt er. „Du läufst doch schon“, ist ihre Antwort. Er verneint. „Ich gehe. Ich laufe nicht.“
Der Weg zurück ins Leben
Ab diesem Tag kommt die junge Frau oft. Gemeinsam arbeiten sie an Seiferts gesundheitlichen Zielen, aber sie reden auch. Über den Unfall, über das Wetter, über ihre Vergangenheit, über Filme, über alles andere. Die zwei kommen sich näher, irgendwann sind sie ein Paar. Und Seiferts Fortschritt ist kaum aufzuhalten. „Die Ärzte sagten immer: 'Eigentlich? – und dann sagen sie irgendwas mit Behinderung, Pflegefall, dauerhaften Lähmungen.
Aber dann fügen sie immer noch einen Satz hinzu“, erzählt er und grinst. „'Aber bei Herrn Seifert ist es anders.?“
Nach einigen Monaten kann Seifert etwas besser gehen. Nur die Laufmotorik will noch nicht richtig funktionieren. Mit Katja übt er unermüdlich. Immer wieder erlebt er Rückschläge, die Beine machen noch lange nicht, was sie sollen. Es soll bis 2014 dauern, bis Seifert wieder erste Jogging-Erfahrung sammeln kann. Er geht es jetzt langsam an, konzentriert sich auf sein privates Glück. Er schreibt seine Bachelorarbeit, qualifiziert sich für einen Masterstudienplatz in Würzburg.
Ein paar Meter Joggen - zum allerersten Mal wieder
Und es kommt der 15. März 2013, der zweite Jahrestag des Unfalls, ein Jahr nachdem er Katja kennengelernt hat. Peter Seifert macht ihr einen Heiratsantrag. Der Frau, mit der er das Laufen wieder lernt – und der Frau, die seine Tochter erwartet. Sie sagt Ja.
Irgendwann ist es dann soweit: Peter Seifert zieht das erste Mal wieder Laufschuhe an und joggt ein paar Meter. Es ist März 2014. „Die Idee war, den Zustand vom März 2011 wiederherzustellen.“ Früher brauchte er für einen Kilometer auf der 50-Kilometer-Distanz dreieinhalb Minuten. Jetzt sind es acht Minuten – für den ersten Kilometer. Er merkt schnell: So einfach geht das alles nicht. „Aber das muss es auch nicht“, sagt er heute.
Neues Leben, neue Ziele, neues Bewusstsein
Auch seine Persönlichkeit sei seit dem Unfall verändert. „Kannte ich vorher kein Nein zum Sport, keine Schwäche, keine Ablenkung, lief ich von da an nur noch um des Laufens Willen. Nicht um eine Zeit zu knacken, einen Wettbewerb zu gewinnen. Ich musste nicht der Beste sein.“ Sein Umfeld vor dem Unfall habe fast nur aus Läuferkollegen bestanden, sie alle kannten nur ein Thema. Persönliches, sofern es nichts mit dem Sport zu tun hatte, fiel hinten runter. Der Kontakt mit den meisten Sportlerfreunden war nach dem Unfall jäh abgebrochen. Er fehlt Seifert nicht. „Das bin nicht mehr Ich.“ Ob es das Alter war? Die Erfahrungen, die der Unfall mit sich brachte? Die Freundin? Er weiß es nicht. „Aber ich hatte mich verändert. Zum Glück.“
Am 15. März 2014 heiraten Peter und Katja. Sie wohnen mittlerweile in einer kleinen Wohnung in Bad Neustadt im Landkreis Rhön-Grabfeld, Katja hat dort eine Stelle in einer Reha-Klinik bekommen.
Peter Seifert trainiert – wenn er „wirklich Zeit und Lust dazu“ hat. War früher das Laufen sein Ein und Alles, ist es jetzt die Familie. Er hadert kaum, auch nicht, wenn ihm sein Körper Grenzen aufzeigt. „Ich hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Da merkt man erst, wie wichtig die kognitive Kapazität ist, wenn das Hirn auf einmal nicht mehr richtig funktioniert. Sie ist viel zu schade für zermürbende Gedanken. Wie viel Kraft das Hirn braucht, um sich Was-wäre-wenn-Fragen zu stellen, steht in keiner Relation zum Nutzen der Fragen.“ Pragmatisch, analytisch, zielgerichtet, das ist Seifert immer noch. Er verliert seine sportlichen Ziele nicht aus den Augen, aber hat neue dazugewonnen: den Master gut abschließen, ein guter Vater sein.
Wieder im Wettkampf - das neue Ziel: ankommen
Ende Februar 2016 ist es soweit: Peter Seifert läuft seinen ersten Wettkampf im neuen Leben. Zehn Kilometer, eine mickrige Distanz im Vergleich zu seinen Erfolgen vor dem Unfall. Und doch ist es wohl der wichtigste Lauf seines Lebens. 1:03 Stunden braucht er, er wollte er die Strecke unter einer Stunde laufen. Aber er lächelt: „Ich bin doch ins Ziel gekommen.“
Der 15. März 2016 geht ins Land, ohne dass etwas Aufregendes passiert. Und das ist vielleicht genau das Beste, was fünf Jahre nach dem Unfall überhaupt sein kann: Dass alles so passt, wie es ist.
Mittlerweile hat Seifert seine Masterarbeit geschrieben, er hat länger gebraucht als andere Studenten, aber das ist egal. Zeiten zählen nicht mehr viel in seinem Leben, sondern das, was passiert, während sie verstreichen. Seit Januar ist er beim Herz- und Kreislaufzentrum in Rotenburg an der Fulda als Neuropsychologe angestellt, mit seiner Familie wohnt er weiter in Bad Neustadt. Seifert will weiter forschen, die psychologischen und kognitiven Aspekte eines Schädel-Hirn-Traumas begreifen. „Dazu gibt es noch immer viel zu wenig Forschung.
“ Irgendwann, ja, da will er es noch mal versuchen mit einem Marathon. „Ich will zeigen, dass es geht, wenn man nur will. Und außerdem hab' ich einfach so richtig Bock drauf!“