Der Ahne ahnt sicher nichts von seiner wiedergewonnenen Popularität: Georg Gernert, geboren am 18. Dezember 1884 in Bad Königshofen, und Anfang des 20. Jahrhunderts ausgewandert in die USA, ist seit vergangenem Samstag Namens- und Sinngeber eines Clubs, der an sein außergewöhnliches Leben erinnert. Aus einer wohlüberlegten Laune heraus gründeten seine Nachfahren in Breitensee den „Club der Carrossellos“. Die Idee hatte Bernd Knahn, dessen Großvater Anton Gernert die Ziegelei in der heutigen Sparkassenstraße besaß und Bruder des ausgewanderten Georg war. Bernd Knahn lud zum Familientreffen und zauberte den Club aus dem Hut. „Es geht um Abenteuerlust und Unsinn“, sagt Bernd Knahn über seinen Vorfahren mütterlicherseits, der in den USA als Löwen- und Tiger-Trainer, Abenteurer, Schauspieler und Filmproduzent eine gewisse Berühmtheit erlangte.
Die Familie konnte bis heute nicht klären, warum der gelernte Metzger Georg Gernert in die USA auswanderte, doch als unstrittig gilt, dass sein Vater ihm die Passage kaufte und er das Beste daraus machte. Briefwechsel mit seiner Familie in Bad Königshofen sowie zahlreiche amerikanische Zeitungsausschnitte, vor allem aus den 20er Jahren, dokumentieren sein Leben. Mit seiner nachgereisten Frau Marie hat er zwei Kinder. Briefe kommen aus Chicago, später aus New Mexico und vor allem aus Kalifornien. Früh gibt er sich den Künstlernamen George Carrossella. Als Tiertrainer arbeitet er im Selig Zoo in Los Angeles und bildet Raubkatzen aus, die für Filmproduktionen eingesetzt werden. Die Selig Polyscope Company war 1896 die erste Filmgesellschaft, die in Kalifornien ein Studio baute. Die Gesellschaft ist vor allem für spektakuläre Tierfilme, Historienstreifen und Western bekannt und leistet sich einen eigenen Zoo, der zunächst nur für Filmtiere gedacht ist, und in dem der ausgewanderte Georg Gernert Arbeit findet.
Das knapp zwanzigminütige Dschungel-Drama „The Weretiger“ aus den Jahren um 1920 zeigt George Carrossella auch selbst als Schauspieler. Der Stummfilm, der nach Expertenmeinung teilweise in den Selig-Studios und teilweise an Originalschauplätzen in Malaysia gedreht ist, hat eine überschaubare Handlung: Minenarbeiter wollen wegen Goldes eine Frau töten. Sie flüchtet und zähmt auf der Flucht einen Tiger, der ihr das Leben rettet. Die abergläubischen Einwohner des Dschungels glauben, die Frau könne sich selbst in einen Tiger verwandeln. Carrossella spielt einen der Minenarbeiter und wird am Ende vom Tiger zerfleischt. In Wahrheit hat Georg Gernert höchstens Kratzer abbekommen. Das US-Monats-Magazin „Popular Mechanics“ würdigt in der Ausgabe vom November 1925 die Fähigkeiten von George Carrossella. In einem Artikel mit der Überschrift „Der gefährlichste Beruf der Welt“ beschreibt das Magazin seine Arbeit und auch sein Äußeres: „Er ist buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Narben übersät, die von den Klauen der Tiere stammen.“
Das Leben von Georg Gernert hinterlässt noch andere Spuren: Am 24. März 1926 bringt die Zeitung „True Republican“ in Illinois eine Meldung, die gar nicht zu den anderen Berichten über Carrossella passt. Überschrift: „Autodieb könnte an Löwenbiss sterben“. Die Polizei hat demnach den seit vier Jahren gesuchten George Gernert verhaftet. Bereits 1922 war er angeblich wegen ungedeckter Schecks verhaftet worden, aber aus einem fahrenden Fahrzeug gesprungen und geflüchtet.
Er überlebt die Blutvergiftung nach dem Löwenbiss. Über eine Haft- oder eine andere Strafe liegen keine Kenntnisse vor. Aus seinen Briefen geht hervor, dass er wenige Monate nach der Verhaftung wieder Filme dreht. Seiner Familie schreibt Carrossella nicht von Problemen mit der Justiz, sondern immer wieder vom Streben nach Wohlstand: „Ihr werdet ja wissen wie es ist man braucht Geld um zu leben und wenn man was zusammen hat will man immer mehr zusammen bekommen.“ Gernert gründet im Laufe der Jahre mindestens zwei Unternehmen: „The Carrossella Expedition and Tiger Farm“ in Los Angeles und die „Globe Production Corporation“ in San Francisco.
Auf undatierten Briefen berichtet er von einem Blutsturz und in der Folge von einer schweren Krankheit, durch die er von 224 auf 154 Pfund abmagert. „Ich kann es nicht mit Worten sagen, was ich durchgemacht habe“, schreibt er. 1929 entschuldigt er sich für sein schlechtes Deutsch, „da es sehr hard ist für mich deutsch zu schreiben, who ich 9 verschiedene Sprachen spreche.“ Immer wieder erfahren seine Verwandten in den Briefen, die er bevorzugt auf Papier teils nobler Hotels in Kalifornien, oft Hollywood, schreibt, dass Georg Gernert das Heimweh plagt und er einen Besuch in Königshofen plant. Doch dazu kommt es nie. Stattdessen reist Gernert mehrmals nach Indien und mindestens einmal nach Südafrika, um „Bilder“ zu machen, wie er schreibt. Dabei dreht er auf Sumatra den Film „MAWAS“, der Ende der 20er Jahre mit Orang-Utans und Bildern von der Großwildjagd begeistert.
Und immer scheint ihm Neues einzufallen: Am 1. Juli 1930 kündigt die Zeitung „Edwardsville Intelligencer“ an, dass Captain George Gernert eine Expedition in die Wildnis von Kurdistan plant. Dort habe ihm Prince Sureya Bedr Khan of Bothan seine kleine Armee für die Expedition zur Verfügung gestellt. Der Artikel beschreibt Gernert als Entdecker und Reisenden, der bereits Präsidenten Roosevelt (gemeint war wohl Franklin) begleitet habe. Tatsächlich erinnert sich der Königshöfer Norbert Gernert an einen verloren gegangenen Zeitungsausschnitt der Carrossella mit Roosevelt in einem Zoo zeigt.
Was aus der Expedition wurde, ist heute unklar. Anfang der 30er Jahre bricht der Kontakt zur Familie ab. In den 40er und 50er Jahren kommen wieder Postkarten von „Captain Gernert“. Er hat ein zweites Mal geheiratet und es scheint ihm finanziell sehr gut zu gehen. Als nach seinem Tod im April 1965 sein Erbe verteilt wird, bekommt jeder seiner sechs Neffen 6000 US-Dollar, also 24 000 Mark. Daran erinnert sich Norbert Gernert, dessen Vater einer der Erben war.
Bis heute ist Carrosselas Art zu leben bei den Treffen seiner Verwandtschaft Thema: „Wir haben Gene in uns, die auch Carrossella in sich hatte“, sagt Bernd Knahn. „Und die sollte man pflegen.“ Deshalb forderte er beim Familientreffen am 30. August seine Verwandtschaft auf, den „Club der Carrossellos“ zu gründen und diesen unter ein Motto zu stellen: „Die Vereinbarkeit von einem Höchstmaß an Verrücktheit und Lebensqualität.“ Die Familie scheint verrückt genug zu sein, um die Ergebnisse der Ahnenforschung auf diesem Weg zu pflegen. Sie gründete nicht nur den nirgendwo eingetragenen Club, sondern wählte auch einen Präsidenten: Ivo Knahn, Neffe von Bernd Knahn, Redakteur dieser Zeitung und Autor dieses Artikels wird für maximal drei Jahre den Carrussellos vorstehen. Damit sind Pflichten verbunden: Pro Jahr muss er mindestens drei Ereignisse erleben, die die Stärken von Carrossella würdigen. In jedem Fall müssen sie Verrücktheit und Lebensqualität vereinen. In höchstem Maße!
„Er ist buchstäblich von Kopf bis Fuß mit Narben übersät.“
Aus einem Artikel 1925 über die gefährlichsten Berufe der Welt