„Gespräch von Mann zu Mann: 'Die Thielmann spielt wieder in Mellrichstadt. Setz dich nicht in die erste Reihe. Das könnte gefährlich werden – bei diesem Thema: Männer und andere Irrtümer.'“ So begann vor einigen Jahren die Betrachtung eines Soloprogramms der Meininger Schauspielerin Marianne Thielmann.
Was im Text folgte, war große Bewunderung für die Künstlerin, gewürzt mit einer Prise – ja, Furcht, in ihr Blickfeld zu geraten: „In drastischer Manier rechnet die Thielmann mit den Männern ab, im fliegenden Wechsel zwischen verschiedenen Rollen. Unabhängig von der Güte der Geschichte, die manchmal langweilt, aber häufig trifft, agiert die Thielmann als Solistin wie eine Zauberin, die zwei Seelen in sich vereint: die der guten Fee und die der bösen.“ Wie eine Zauberin, die zwei Seelen in sich vereint. Dieser Satz fällt mir ein, wenn ich heute an die Thielmann denke. Zwei Seelen? Weit mehr, und dazu viele Gesichter.
Die Schauspielerin begleitete mich in ungezählten Rollen in ebenso ungezählten Geschichten und Seelenverfassungen ein Vierteljahrhundert durchs Meininger Theater, auch wenn sie sich dort einige Jahre rar gemacht hatte, weil sie einen freiberuflichen Weg als Künstlerin ging. Viele Mimen kamen in den vergangenen zwei Jahrzehnten ans Meininger Theater, blieben kurz und gingen wieder, um andernorts Karriere zu machen oder auch nicht. Viele Namen sind vergessen, einige Künstler jedoch haben sich unauslöschlich im Gedächtnis eingenistet. Die Thielmann gehört dazu – als eines der kaum fassbaren Wesen, die dem Geist dieses Hauses immer wieder Leben eingehaucht haben. Nicht als eine der Säulen, die das Äußere tragen, sondern als eines der gestaltwandlerisches Teilchen der inneren Verfassung.
Ja, auch ihr 2004 verstorbener Vater Wilhelm Thielmann, einst Meininger Schauspieler und Theaterintendant (1974-1981), war so ein Verfassungsteilchen. Lange nach seiner aktiven Zeit schien er immer noch zum höchst lebendigen Inventar des Theaters zu gehören. Streng, aber wohlwollend begleitete und beurteilte er als treuer Zuschauer die künstlerische Entwicklung seiner Tochter, die nach dem Studium an der Hochschule für Schulspielkunst „Ernst Busch“ und einem Engagement in Greifswald seit 1982 am Meininger Theater arbeitete.
Das erste Mal fiel mir die Thielmann 1990 auf, als Mädchen aus der Provinz in „Linie 1“, der ersten Musicalinszenierung nach der Wende, und kurz danach als Iphigenie. Wandlungsfähig wie sie war, schien sie auf der Meininger Bühne fortan ständig die Welten zu wechseln: gestern die Piaf, heute die Callas, morgen Woody Allens „Hannah“ und übermorgen Miss Ratched, die zynische Stationsschwester aus „Einer flog über das Kuckucksnest“.
In den vergangenen Jahren war sie auf der Meininger Bühne wiederum präsent, als Magd in Strindbergs „Fräulein Julie“ etwa, als Helene Alving in Ibsens „Gespenster“, als resolute Maria in der Komödie „Othello darf nicht sterben“, als Christin Daja in Lessings „Nathan der Weise“, als Stauffachers Frau in Schillers „Wilhelm Tell“, als Marthe im Faust, als alte Frau im poetischen Märchen „Ein Kranich im Schnee“ und als Big Mama in Tennessee Williams Meisterwerk „Die Katze auf dem heißen Blechdach“.
Wenn es nach der Zahl ihrer Rollen ginge und nach der Intensität, mit der sie diese gespielt hat, müsste Marianne Thielmann sieben Leben gelebt haben. Ein unsterbliches Bewusstseinsteilchen in der neueren Geschichte des Meininger Theaters ist sie allemal. Insofern werde ich bei jedem zukünftigen Theaterbesuch, egal, ob vom ersten Parkett aus oder vom dritten Rang, dem Rauschen im Saal lauschen, bevor sich der Vorhang öffnet. Marianne Thielmanns Stimme wird zu hören sein. Am 8. November ist sie im Alter von 56 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben.