So lieben wir die ersten Minuten einer Opernvorstellung: Der geschlossene Vorhang dezent beleuchtet, das Publikum erwartungsfroh, stimuliert durch die Ouvertüre, die (fast) alle kennen – Premiere von Rossinis Oper „Guglielmo Tell“ am Meininger Theater.
Der Sturm überm Vierwaldstätter See hat sich bereits gelegt, die liebliche Hirtenweise ertönt und dann marschieren die Reiter. Der Vorhang öffnet sich und – wir sehen nicht, was viele vielleicht erhoffen: den historischen Seeprospekt der Brüder Brückner. Erste Überraschung in dieser an Überraschungen reichen Tell-Inszenierung von Philipp Kochheim, unter musikalischer Leitung von Generalmusikdirektor Hans Urbanek. Nichts von Alpenidyll, nichts von Schweizer Folklore.
Thomas Gruber (Bühnenbild) und Annette Mey (Kostüme) setzen uns eine völlig unerwartete Welt vor Augen, einen zerbombten Museumssaal (später folgt ein Kellerraum), in dem gebeugte aber nicht gebrochene Menschen emsig an der Restaurierung beschädigter Kunstwerke und Bücher arbeiten. Nicht zu übersehen: Jacques-Louis Davids berühmtes Gemälde „Der ermordete Marat“. Eine Anspielung, die wir in diesem Augenblick noch nicht zu deuten wissen. Weit und breit also nichts von Alpenidyll, auch kein einsamer Wolf namens Tell, sondern höchstens ein Primus inter Pares im Kollektiv von Widerspenstigen.
Organisierter Widerstand
Wir sehen Bilder aus einem von einer feindlichen Macht besetzten Land in naher Zeit. Man könnte sie, zum Beispiel, als von den Deutschen besetztes Frankreich verorten. Und den Tell könnte man als einen aus der Not zum Kämpfer gewordenen Menschen sehen, der mit seinen Leidensgenossen den Widerstand gegen die Unterdrücker organisiert.
Auch wenn die Übertitelung der in italienisch gesungenen Oper nicht mehr als in Stichworten die Szenen beschreibt, ahnen wir, dass ungeheuer viel Leidenschaft, ja Pathos, im Spiel ist. „Patria“, „amore“ und „speranza“ (Hoffnung) begleiten uns bis zum umjubelten Finale nach dreieinhalb Stunden.
Selbstverständlich wird der Apfelschuss nicht mit der Armbrust, sondern mit einer Pistole vollzogen. „Fantastisch“, sagen wir, ohne groß darüber nachzudenken, „fantastisch, aus welch verschiedenen Perspektiven allein schon eine Geschichte betrachtet werden kann!“
Welch ein Unterschied von Menschen und Milieu in den beiden aktuellen Tell-Interpretationen am Meininger Theater. Da kriegt man wirklich Lust, zwischen der Welt des Schauspiel-Tell und des Opern-Tell zu pendeln.
Ein zweiter Gedanke: „Wie spannend doch eine Oper erzählt werden kann!“ Obwohl die Idee, den Zuschauersaal ins Spiel einzubeziehen, nicht gerade neu ist, stockt uns doch der Atem, wenn wir Geßler und Hofstaat plötzlich in der einen Proszeniums-Loge sehen, gelangweilt im Programmheft blätternd, Champagner trinkend, während in der Loge gegenüber ein Besatzungsoffizier die Partitur in der Hand hält und mitdirigiert. Das Volk drängt sich derweil unten im Saal an den Seiten und Tell stürmt herein, um Geßler zu ermorden. Da vermischen sich für Augenblicke die Welten, da verwischen sich die Grenzen. So sollte Theater sein.
Und dann fällt einem noch etwas auf, das so selbstverständlich bei Meininger Opernereignissen nicht ist. Künstler singen nicht nur mit all ihrer Kunst und Leidenschaft, sie spielen auch glaubwürdig. Liebesschwüre landen nicht im Ungefähren, Liebende sehen sich an, singen sich an, fassen sich an. Ob Arnoldo dabei tatsächlich 456 G‘s, 93 A‘s, 54 B‘s, 15 H‘s, 19 C‘s und 2 Cis‘ singt, wie James Joyce einst behauptete, haben wir nicht nachgezählt.
Wir ahnen aber, welch mörderische Gesangspartien in diesem Stück stecken. Und deshalb sind die gesanglichen und mimischen Leistungen von Xu Chang (Arnoldo) und Alla Perchikova (Matilde), von Dae-Hee Shin (Tell), Maida Karisik (Gattin), Sybille Sachs (Sohn), von Erdem Baydar (Geßler) und Stan Meus (Rodolfo), von Dominik Nekel (Fürst), Calin-Valentin Cozma (Melchthal), Roland Hartmann (Leutoldo) und Jaques le Roux (Fischer) einfach nur bewundernswert.
Besonders beeindruckende Szenen: das Männertrio Nekel, Dae-Hee Shin und Xu Chang die Freiheit beschwörend, Alla Perchikova im Duett mit Xu Chang und die Logenszene mit Baydar, Meus, Karisik, Sachs, Dae-Hee Shin und dem Chor. Chor und Extrachor, unter Leitung von Sierd Quarré, singen mit einer Inbrunst, dass einem ganz warm ums Herz wird. Zudem sind die Choristen auch visuell hervorragend in den Szenen integriert. So entstehen wunderschön schreckliche Bilder von Not, Unterdrückung und Hoffnung.
Gewalten im Orchestergraben
Und die Gewalten aus dem Orchestergraben? Sie verbünden sich mit den Gemütern der Menschen erstaunlich selbstverständlich. Als ob sie wüssten: Ohne uns kein Pathos, keine Leidenschaft, keine Trauer, kein Zweifel, keine Träume, keine Hoffnung, keine Zärtlichkeit, die die Menschen im Dunkel des Zuschauerraums berühren könnten.
Wenn diese musikalische Zuwendung in einer Hollywood-Verfilmung um sich griffe, wir würden zerfließen. Aber im Theater geht vielen Zuschauern, ob jung oder alt, nur das Herz über, ohne Gefahr, hinwegzuschmelzen. Sie rufen hemmungslos „Bravo“ und erheben sich zu Standing Ovations. Voil?, Grande Opéra. Im kleinen Meiningen.
Nächste Vorstellungen: 8., 16. und 24. Oktober, jeweils 19.30 Uhr, 8. November, 15 Uhr. Karten unter Tel. (0 36 93) 451 127 oder 451 222. www.das-meininger-theater.de