Wieder so ein Fall von „Vergessen wir alles, was wir über die Geschichte wissen“: Weißer Hase, einsachtzig groß – treuester Freund des schrulligen Elwood P. Dowd. Für andere Leute leider unsichtbar. Sie erinnern sich: James Stewart, Heinz Rühmann, Harald Juhnke als Elwood. Und jetzt, 65 Jahre nach der Uraufführung der vielfach verfilmten Komödie „Mein Freund Harvey“, hat der unsichtbare Hase das Meininger Theater erreicht. Der Regisseur und Schauspieler Matthias Kniesbeck („Heimat“) hat das Stück von Mary Chase in Szene gesetzt: Elwoods Schwester versucht, ihren Bruder wegen seiner Macke psychiatrisch behandeln zu lassen, und wird selbst beinahe Opfer der Verhältnisse. Schließlich bezirzt Elwood das Personal der Anstalt so, dass der eine oder andere sich mit der Existenz des Hasen Harvey anfreunden kann.
Es empfiehlt sich, die Geschichte nicht an den filmischen Vorbildern zu messen. Entscheidend ist nur die Frage: Ist Harvey 2009 eine ernstzunehmende Erscheinung? Die amerikanische Komödie soll die Erfolge der angelsächsischen Komödien am Hause fortsetzen. Tut sie‘s?
Naja. Schnelligkeit und rhetorischer Schlagabtausch sind ihre Sache nicht. Zwar gibt es wunderschöne Szenen mit herzhafter Situationskomik. Es gibt witzige, hintersinnige Dialoge, und überhaupt beherrscht eine Aura von Liebenswürdigkeit die Geschichte. Hinter Elwoods freundlicher Fantasterei stehen schließlich zeitlose moralische Botschaften: Nehmt euch nicht so ernst. Unterwerft euch nicht dem Diktat von Sachzwang und Norm. Und: Pflegt eure Fantasie, und leistet euch euren eigenen Harvey. So wahrhaftig diese Botschaften auch sein mögen, ihre Umsetzung auf der Theaterbühne kann schwierig werden.
In der Meininger Inszenierung gibt es zwischen bürgerlichem Salon und Psychiatrie ein paar Passagen, die sich ziemlich dahinschleppen. Wenn Schauspieler – wie Christine Zart als stets besorgte Schwester Elwoods, Sophie Lochmann als deren Tochter oder Harald Schröpfer als Jungpsychiater –, wenn Schauspieler also furchtbar gekünstelt sprechen und sich bewegen müssen, dann wirkt das so kalkuliert verstaubt, als wolle man den Humor von Theo Lingen und Hans Moser wiedererwecken. Um das Milieu von Raum und Zeit der 1940er Jahre in Cleveland/Ohio aufleben zu lassen, sind Salon und Empfangsraum einer psychiatrischen Heilanstalt schon mal ein gutes Fundament. Helge Ullmanns Bühnenbild passt in diese Welt (selbst wenn man sich gerne eine Kneipenszene mit Harvey wünscht).
Auch die zeitgemäßen Kostüme von Bente Matthiessen kolorieren das Zeitbild. Aber was an künstlicher Komik und Aufgeregtheit (immer wieder beliebt: überkandidelte Stimmen und erregtes Hin- und Herlaufen) gespielt wird, ist einfach des Guten zu viel.
Wie entspannt ist dagegen das Spiel derjenigen, denen jene Künstlichkeit in Gestus und Sprache nicht so aufgepfropft wird. Vor allem Roman Weltzien als Elwood und Max Reimann als alter Psychiater wirken hier wesentlich „natürlicher“ als andere Figuren. Grenzfälle zwischen lebensnaher Komik, Klamauk und Klischee sind hingegen Michael Jeske als Pfleger und Renatus Scheibe als Anwalt der Familie und, in einem kurzen Auftritt, als noble Dame der Gesellschaft. Da kann man ein paar Mal herzlich lachen, dann aber ist die Luft raus.
Und dann gibt es noch ein paar Charaktere, die nicht so recht komisch sein dürfen. Josephine Fabian als Krankenschwester ist einfach bildhübsch anzusehen, ohne dass ihr besondere komödiantische Aufgaben zuwachsen. Auch Rosemarie Blumenstein ist unterfordert. Nennenswert komische Eigenschaften werden von der Gattin des Psychiaters nicht verlangt. Nein, bei aller Liebenswürdigkeit der Geschichte: Eine durchgängig spannende Inszenierung ist das nicht. Das mag daran liegen, dass die Handlung trotz zeitloser Botschaften schlicht antiquiert wirkt.
Mehr jedoch scheint der Versuch, die Antiquiertheit künstlich aufzuhübschen, das Schwächeln der Handlung zu forcieren. Die frohe Botschaft des Abends: Nach der Vorstellung wurden nicht wenige Zuschauer beim Smalltalk mit unsichtbaren Hasen beobachtet.
Weitere Vorstellungen: 29. Januar, 6., 13., 18. Februar, 19.30 Uhr, 28. Februar, 15 Uhr. Karten: Tel. (0 36 93) 45 12 22 oder 45 11 37. Regisseur und Ensemble gestalten auch die musikalische Revue „Elvis liebt dich“ (Premiere 28. Januar). www.das-meininger-theater.de