Papierdünne Haut, puppenzarte Ärmchen, winzige Füße: Eine Handvoll Mensch – das war Janik, als er am 12. März 2014 als extremes Frühchen in der Würzburger Universitäts-Kinderklinik zur Welt kam. Mit nur 475 Gramm in der 25. Schwangerschaftswoche. Seine Augen sollten noch wochenlang geschlossen bleiben. Eineinhalb Jahre später strahlen sie glücklich Richtung Schoko-Adventskalender. „Mama, Papa“, brabbelt das energiegeladene Kerlchen und streckt dem Besucher selbstbewusst die Arme entgegen.
„Es ist ein Wunder“, sagen seine Eltern. Aber auch: „Sein Weg ins Leben war ein schrecklicher Kampf.“ Lange haben Nadine und Heiko Breitinger aus Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) überlegt, ob sie Janiks Geschichte öffentlich machen. Letztlich haben sie sich dafür entschieden und im Sommer dieses Jahres auf YouTube ein Video über Janiks erste Lebensmonate veröffentlicht. Über 6000 Mal ist das mittlerweile geklickt, auch diese Redaktion ist darüber auf die Familie aufmerksam geworden.
Ursprünglich war das Video nur als Taufgeschenk von Marco Schmitt an sein Patenkind Janik gedacht. In wochenlanger Kleinarbeit hatte er die Anfangszeit rekonstruiert, Arztberichte durchforstet, Fotos und Videos sortiert. „Damit die Eltern die Zeit verarbeiten können, aber vor allem auch als Erinnerung für Janik.“
Dann aber wurde der Familie bewusst, das Video, überhaupt Janiks Geschichte, könnte anderen helfen. „Wir wollen Hoffnung geben, das Ende der Geschichte erzählen und zeigen: Es kann gut ausgehen“, sagt Mutter Nadine. „Kann, das ist natürlich kein Muss.“ Familie Breitiger weiß um andere Fälle. Die, in denen es Frühchen bei weitaus besseren Startbedingungen nicht schafften.
Das Warum
Warum ist das passiert? Warum uns? Warum so? Die Frage nach dem „Warum“ hat die 33-jährige Mutter lange beschäftigt. Mittlerweile kann sie die Antwort einer Krankenschwester akzeptieren. „Es war eine Laune der Natur.“
Die schlug schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt zu. Während die Schwangerschaft mit Jonas vier Jahre zuvor völlig problemlos verlaufen war, ging bei Janik von Anfang an viel schief. Starke Unterleibsschmerzen in der Frühschwangerschaft, um die 18. Woche ist klar: Das Kind wird nicht mehr optimal versorgt. Ständiges Liegen, schließlich dauernde Überwachung im Krankenhaus. „Die Ungewissheit war das Schlimmste.“ In der 25. Woche setzen die Wehen ein, die Herztöne des Kindes fallen ab, Janik kommt per Notkaiserschnitt unter Vollnarkose zur Welt.
„Es war brutal“, beschreibt der Vater die erste Begegnung mit dem Kind. Als der Arzt ihm das in Folie gewickelte Etwas zeigt, will er gar nicht hinsehen. „Wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Wäre da nicht das Schnäbelchen gewesen, das sich bewegt hat, ich hätte nicht gewusst, ob er lebt.“
Der Arzt spricht von Startschwierigkeiten. Prinzipiell aber mache es der Junge gut, so viel erinnert der Vater, der zeitgleich in großer Sorge um seine Frau ist. Die hätte nämlich längst aus der Vollnarkose aufwachen müssen. Doch zwei Tage lang ist sie nicht richtig ansprechbar. Die Erinnerung an diese Zeit fehlt ihr bis heute.
Lebt Janik?
Während die Mutter im zweitägigen Delirium immer wieder fragt: „Lebt er?“, „Wie sieht er aus?“, kämpft der Vater mit der Erkenntnis, dass ihr Leben ab diesem Tag anders sein wird. Plötzlich sind da all die Fragen: Ab wann ist Leben lebenswert? Was, wenn Janik stirbt? Was, wenn er lebt und schwere Schäden davonträgt? Heiko Breitinger denkt an das neu gekaufte Haus, an seine Arbeit, an den vierjährigen Jonas. Und hat Angst vor dem Moment, in dem seine Frau dieses Häuflein Mensch, nur von Maschinen und Fremdblut am Leben erhalten, erblickt.
Völlig zu Unrecht: Denn die ist sofort von Muttergefühlen überwältigt: „Ich fand ihn vom ersten Moment an süß.“ Sie ist es, die in den nächsten Monaten bei allem Elend das Positive sieht, während er tendenziell das Negative fürchtet.
„Wir haben einfach funktioniert“, sagt Nadine Breitinger über die folgenden Lebensmonate, in denen Janik immer wieder um sein Leben ringt. „Ich habe über Wochen nichts gegessen“, erinnert sich der Vater. Geschlafen haben sie sowieso nicht. Was ihnen aus der Zeit noch präsent ist? Die Totenstille im Auto bei den zahllosen Fahrten nach Würzburg, die Angst vor dem Klingen des Telefons. Und natürlich das schlechte Gewissen dem vierjährigen Jonas gegenüber, der über Monate tagsüber bei Familie und Freunden untergebracht ist.
Dankbarkeit dem Krankenhaus gegenüber
„Hätten wir die nicht gehabt“, sind sich die Eltern sicher, „wir hätten es nicht geschafft.“ Zutiefst dankbar sind sie auch dem ganzen Krankenhausteam und dem „Bunten Kreis“, der Hilfestellung in der erste Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt bot.
Die Ereignisse sind für das Ehepaar komplett verschwommen. Fortschritte, Rückschläge in zeitliche Abfolge bringen können beide nur schwer. Erst das Video des Taufpaten erschuf für sie eine Chronologie der Ereignisse. Ein Auszug in Worten:
1. Lebenstag: 12. März: Es ist Gewissheit: Du hast die Geburt überlebt.
3. Lebenstag: Dein Ductus (Herz) steht noch viel zu weit offen. Medikamente sollen das Problem lösen.
6. Tag: Die Hohlsonde aus deiner Lunge wird zum ersten Mal entfernt. Du trägst eine Sauerstoffmaske. Immer wieder werden alle Beteiligten auf das Schlimmste vorbereitet: „Man soll schon einmal damit rechnen, dass es nicht mehr lange dauert, bis sein kleiner Körper komplett versagt.“
9. Tag: Du darfst zum ersten Mal nach deiner Geburt auf Mamas Arm. Dein Ductus verschließt sich langsam.
11. Tag: Dir geht es zunehmend schlechter. Deine Nieren haben versagt, du wirst isoliert und bekommst Nottransfusionen.
15. Tag: Dazu kommt eine Lungenentzündung, die mit drei verschiedenen Antibiotika therapiert werden muss. Zudem versagt die Atmung, du wirst künstlich über eine Hohlsonde am Leben erhalten.
17. Tag: Deine Eltern werden angerufen, sie sollen sofort kommen. Es könnte der letzte gemeinsame Augenblick sein.
19. Tag: Dein Zustand stabilisiert sich. Die Beatmungssonde wird entfernt, doch dein Ductus hat sich wieder geöffnet.
21. Tag: Wieder versagt die Atmung, der Köper ist einfach zu schwach.
26. Tag: Sauerstoffmaske statt Beatmungsschlauch; Du öffnest zum ersten Mal die Augen.
2. Monat: Du hast 1000 Lebensgramm erreicht. Um die Augen steht es schlecht, die vielen Beamtungen haben die Gefäße beschädigt.
11. Mai: Du nimmst gut zu, aber die Augen müssen wahrscheinlich gelasert werden.
3. Monat: Du brauchst immer weniger Sauerstoff, dein Gewicht nimmt täglich zu.
9. Juni: Grauenvolle Tage: verlangsamter Herzschlag, zu wenig Sauerstoff im Blut, Verdacht auf Hirnhautentzündung, aber Mama darf dich zum ersten Mal mit der Flasche füttern. 23 ml, der Rest kommt noch über die Magensonde.
4. Monat: 15. Juni: Du kommst erstmals drei Stunden ohne zusätzlichen Sauerstoff aus.
5. Monat: 16. Juli: Selbst die Ärzte müssen langsam eingestehen: Du willst leben. Sie sprechen von einem Wunder. Deine Augen haben sich nahezu komplett erholt, der Ductus ist weitestgehend geschlossen.
28. Juli: Dein Leistenbruch wurde operiert.
11. August: Du darfst nach Hause.
Nach wie vor mit Monitor überwacht und an Sauerstoff angeschlossen, kam Janik im August 2014 heim nach Bad Neustadt. Alle hofften auf eine Entspannung der Situation
Doch die Nächte waren schrecklich, die Eltern schliefen kaum. Dauernd sprang der Alarm an: Sauerstoff hochregeln, Sauerstoff runter. Am 17. August wollen sie aufgeben, zurück in die Klinik fahren. Die Kraft ist aufgebraucht. Zudem stimmt etwas nicht: Janik braucht wieder mehr Sauerstoff. „Plötzlich lief er blau an, Milch lief ihm aus der Nase.“

Sie hatten eine Einweisung bekommen, was in Notfällen zu tun sei. „Im Ernstfall klappt das nur bedingt.“ Sie konnte nicht aufhören zu schreien, er hielt das Kind im Arm, als wollte er es nie mehr loslassen. Notruf, Krankenwagen, Reanimation, Helikopter, stundenlanges Warten und Bangen.
Zum x-ten Mal überlebt „der kleine Kämpfer“ um ein Haar. „Sein Kampfgeist, sein Überlebenswille war von Anfang an enorm“, sagen die Eltern. Eine Nierenbeckenentzündung war diesmal der Auslöser. Zehn Tage Antibiotika sollen folgen, am achten Tag muss die Behandlung abgebrochen werden, weil die Ärzte keine Körperstelle mehr finden, an der sie die Infusion noch setzen könnten. Der kleine Körper ist komplett zerstochen und vernarbt. Es ist der 27. August, als Janik endgültig nach Hause darf.
Gut ist damit noch lange nicht alles. Körperkontakt, ein Streicheln, Umarmungen kann er anfangs kaum ertragen. Monatelang wird er am Monitor hängen, bis zum ersten Geburtstag immer wieder mit Sauerstoff versorgt werden müssen. Jeder Schnupfen kann ernsthafte Konsequenzen haben, die Familie lebt den ersten Winter quasi isoliert. Der große Bruder trägt Mundschutz und Handschuhe.
Vorsicht vor dem Geschwisterkind, hatten Experten gewarnt. Man wisse nie, wie das in seiner Eifersucht reagiere. Doch Jonas verhält sich vorbildlich. Die beiden sind nach kürzester Zeit ein Herz und eine Seele. Als Janik mal wieder wochenlang nicht zunimmt – wie viele Frühchen hat er durch Schläuche und Magensonde eine Essstörung davongetragen – ist Jonas derjenige, der ihn doch noch zu einem Schluck aus der Milchflasche überreden kann.
Im Dezember 2015 ist die Familie im Alltag angekommen. Einen gemeinsamen Urlaub in Italien hat sie hinter sich, Jonas Einschulung und Janiks erste freihändige Schritte vor sich. „Lange dürfte es nicht mehr dauern“, mutmaßt die Mutter. An der Hand läuft Janik schon ziemlich sicher. Die Eltern fiebern darauf hin, denn dann wird sich zeigen, inwiefern Janiks Gleichgewichtssinn beeinträchtigt ist. Die ersten Worte kommen jedenfalls bereits über seine Lippen. Und Umarmungen fordert er mittlerweile ein.
Alles passiert langsamer
„Alles passiert etwas langsamer als bei seinen Altersgenossen, aber es passiert.“ In manchem ist er denen aber auch voraus: im Glück-Empfinden. Wenn Janik lächelt, strahlt sein ganzes Gesicht, als wollte er sagen: „Schön, hier zu sein.“ Und im Haus der Familie Breitinger in Bad Neustadt geht die Sonne auf.
Frühchen an der Uni-Kinderklinik Würzburg
Professor Johannes Wirbelauer, leitender Oberarzt der Neonatologie an der Uni-Kinderklinik Würzburg, ordnet Janiks Fall auf Anfrage dieser Redaktion ein. „Janik gehört zu den Frühgeborenen, die mit dem allerhöchsten Risiken von akuter und auch chronischer Krankheit zur Welt kommen. Auch mit einem Risiko zu versterben oder mit einem bleibenden Handicap zu überleben.“
Bayernweit kamen 2014, Janiks Geburtsjahr, 70 Neugeborene mit einem Geburtsgewicht unter 500 Gramm zur Welt, 17 davon am Universitätsklinikum Würzburg (UKW). Das leichteste vom UKW im Jahr 2014 am errechneten Geburtstermin nach Hause entlassene Frühgeborene hatte ein Geburtsgewicht von 345 Gramm, ein anderes Frühgeborenes 380 Gramm. „Beiden Kindern geht es heute ebenfalls sehr gut“, sagt Professor Johannes Wirbelauer.
Analysiert man die Behandlungszahlen für Bayern, fällt die „vergleichsweise hohe Zahl von am UKW behandelten extrem kleinen und unreifen Frühgeborenen“ auf. Diese Zentralisierung, so Wirbelauer, habe enorm zur Verbesserung der Behandlungstechniken und zur Verbesserung der Geburtsumstände beigetragen.

Das Risiko einer Schädigung bleibe aber immer bestehen. Allerdings beobachte man am UKW deutlich seltener als an anderen Kliniken Schädigungen etwa am Gehirn, an Lunge oder Augen, wie eine Datenerfassung der Bayerische Arbeitsgemeinschaft für Qualitätssicherung belegt. Wirbelauer führt das unter anderem darauf zurück, dass in Würzburg alle Voraussetzungen bestünden, diese kleinsten Frühgeborenen optimal zu behandeln. Im Frühjahr 2015 ist die neue Frühgeborenen-Intensivstation mit 14 Intensivbehandlungsplätzen und 22 Intensiv-Überwachungsplätzen bezogen worden, was die Bedingungen weiter verbesserte.