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MELLRICHSTADT: Manchmal ist es eben mehr Schein als Sein

MELLRICHSTADT

Manchmal ist es eben mehr Schein als Sein

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    (frr) Es ist merkwürdig: Unrecht und „mehr scheinen als sein“ haben die Menschen zwar schon immer empört, aber auch fasziniert – mehr als brave Wohlanständigkeit. Das gilt z. B. für die Berichterstattung in den Medien. Aber besonders auch für die Erzählkunst war und ist dies ein immer wieder ergiebiges Motiv. Das war auch einer der Gründe, weshalb die Organisatoren von „Mellrichstadt liest“ das Thema „Lebenskünstler: Angeber und Hochstapler“ für den Monat Januar ausgesucht hatten.

    Trotz winterlichen Wetters waren viele Bürger ins Café Art in Mellrichstadt gekommen, um den Vorlese-Vorträgen von Barbara Böhm und Marianne Völkl, von Rudi Glaesner und Fred Rautenberg zuzuhören. Sie präsentierten Texte, in denen von verschiedenen Autoren das Thema „Hochstapelei“ beziehungsweise „Angeberei“ variiert wurde.

    Fred Rautenberg führte dann zum Thema hin. Er sah den Unterschied zwischen einem Angeber und einem Hochstapler vor allem darin, dass der Hochstapler sich durch seine Lügenhaftigkeit aus einer niedrigeren Gesellschaftsschicht in eine höhere einschleichen will, um deren Privilegien und Früchte zu genießen. Dem Angeber dagegen kommen die Leute meist schnell auf die Schliche und verlieren vor ihm den Respekt. Gemeinsam sei ihnen aber die Grundeinstellung: Sich einen Anschein geben, der mit der Realität nichts zu tun hat. Das könne man als eine Form von Lügenhaftigkeit ansehen.

    Von Rudi Glaesner vernahmen die Gäste mit Erstaunen, dass man Angeberei auch musikalisch ausdrücken kann. Am Klavier „erzählte“ er eine „Geschichte“ in musikalischer Form von einem verliebten jungen Mann in Sibirien, der seiner Angebeteten die Sterne vom Himmel verspricht und sie aus jeder Gefahr befreit: z. B. aus dem Rachen eines sibirischen Tigers. Doch als dann das Brüllen eines Tigers aus der Ferne tatsächlich zu hören ist, springt der Maulheld in Panik auf sein Pferd und flieht in rasendem Galopp, die Geliebte schutzlos zurücklassend. All das wird durch die Musik ausgedrückt: schmeichelnd zunächst, dann alarmiert, und dann mit einem hastigen Tempo der Melodie.

    Aus „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann las Fred Rautenberg dann als erster vor. Schon die ersten Absätze dieses autobiografisch gehaltenen Romans verraten, dass Krull zum Hochstapler prädestiniert ist: Schön wie ein Adonis, aber eitel und narzistisch-selbstverliebt bis zum Übermaß, von einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein geprägt, dabei außerordentlich rede- und schreibgewandt (wenn auch mit einem gestelzten Stil), das sind seine hervorstechenden Eigenschaften. Das Simulieren von Krankheiten kann er schon früh, wenn es ihm ums Schulschwänzen geht. Ein Höhepunkt seiner Verstellungskunst ist die Szene der Musterung. Dort führt er den ihn begutachtenden Ärzten ein Schauspiel vor, von Schüchternheit über künstliche Erregung bis hin zu einem vorgetäuschten epileptischen Anfall und Ohnmacht. Die Ärzte gehen ihm auf den Leim, Krull wird aus dem Militärdienst ausgemustert.

    Die zweite Episode aus dem „Felix Krull“, die Rautenberg vortrug, war die Begegnung mit der Industriellengattin und Schriftstellerin Madame Houpflé. Nach dem Suizid des Vaters landet Krull in einem Hotel in Paris als Hotelpage. Dort trifft er wieder die Frau, die er am Zoll um ihr Schmuckkästchen bestohlen hatte. Diese masochistisch veranlagte Dame empfindet höchste erotische Lust, wenn ein im gesellschaftlichen Rang weit unter ihr Stehender sie „nimmt“. Dass er sie bestohlen hatte, nimmt sie ihm nicht nur nicht übel, sie spricht ihm göttliche Eigenschaften wie dem antiken Gott Hermes zu (der u. a. auch Gott der Diebe war), und sie fordert ihn geradezu auf, sie noch einmal zu bestehlen. Was Krull auch prompt tut.

    Krull wird zu einem wirklichen Hochstapler, als er in die Rolle des Marquis Louis de Venosta schlüpft, mit dessen vollem Einverständnis übrigens. In dieser Rolle, die Krull glänzend auszufüllen weiß, begegnet er in Lissabon dem Professor Kuckuck und dessen Frau und seiner Tochter Suzanna. Dem jungen, spröden Mädchen macht er unentwegt den Hof, aber auch die ausdrucksvolle, schöne Mutter weckt sein Begehren. Als er Suzanna endlich gewonnen hat, wird ihr Rendezvous durch das Auftauchen der Mutter gestört. Doch auch an der Mutter ist Krulls Charme nicht spurlos vorübergegangen: Nach einer Strafpredigt über die Torheit, ihrer Tochter den Kopf zu verdrehen, bietet sie sich selbst zur Geliebten an. An dieser Stelle bricht der Fragment gebliebene Roman ab.

    Nach einer Einleitung durch Rudi Glaesner las Barbara Böhm dann mit ihrer tragenden, ausdrucksvollen Stimme das bekannte Grimmsche Märchen vom „Tapferen Schneiderlein“ vor. Nach Aussage einiger Besucher war es schön, das Märchen wieder einmal gehört zu haben. Glaesner aber wies darauf hin, dass Märchen mehr als nur Geschichten für Kinder sind, sondern dass sich darin Vorstellungen artikulieren, die durchaus für Erwachsene bedeutsam sind. Das Schneiderlein als Variation des Angeber- und Hochstaplermotivs, bei dem der Held einmal keinen Schiffbruch erleidet, sondern am Ende eine Prinzessin heiratet und ein halbes Reich erwirbt.

    Mit nicht weniger wohlklingender Stimme und textgerechter Artikulation trug Marianne Völkl die Erzählung „Der Brötchenclou“ von Wolfdietrich Schnurre aus dessen Erzählband „Als Vaters Bart noch rot war“ vor. Ein kleiner Junge, der ein sehr emotionales Verhältnis zu seinem Vater hat, will diesem zum Geburtstag ein Geschenk machen. Das Geld dazu will er sich in einer Jahrmarkt-Schaubude verdienen, indem er sich auf eine Wette einlässt: Sechs trockene Brötchen müssen in fünf Minuten vertilgt werden, dann bekommt er 10 Reichsmark. Aber trotz intensiven Trainings besteht er diese Wette nicht, zum allergrößten Gaudium des gaffenden Publikums und zur größten Demütigung für den Jungen und seinen Vater.

    Mit zwei Beiträgen von Rudi Glaesner klang dann der Vorlesenachmittag aus. Er trug zunächst in seiner unnachahmlichen Weise das Gedicht „Die Sache mit den Klößen“ von Erich Kästner vor. Das Großmaul Peter hat behauptet, dass er dreißig Klöße essen kann. Seine Kameraden verlangen den Beweis, aber nach fünfzehn Klößen ist Ende, Peter wird zum Fall fürs Krankenhaus. Die Moral des Gedichts: „Das Renommieren hat zu Zeiten auch seine großen Schattenseiten.“

    Der letzte Beitrag fand noch einmal gespannte Aufmerksamkeit bei den Zuhörern, als Glaesner die schwer zu lesende „Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg“ von Heinrich von Kleist vortrug. Darin wird von einem preußischen Reitersoldaten erzählt, der in einem Dorf beim Wirt nach Schnaps verlangt, obwohl jeden Augenblick französische Truppen in das Dorf einmarschieren werden. Er scheint alle Zeit der Welt zu haben, obwohl der Wirt ihn wie wahnsinnig drängt, sofort das Weite zu suchen. Aber als sich drei französische Chasseurs sehen lassen, greift er diese, das Überraschungsmoment ausnutzend, an, haut alle drei vom Pferd und jagt dann endgültig mit den erbeuteten Pferden davon. Aufschneiderei oder Selbstsicheres Bewusstsein der eigenen Tüchtigkeit?

    Das nächste Thema von „Mellrichstadt liest“ lautet „Aufbruch: Auf zu neuen Ufern“; die Lesung findet am 7. Februar um 17 Uhr im Café Art statt.

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