Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah? Die Bewohner Mellrichstadts brauchten jedenfalls nur bis zum Café Art zu gehen, um bei einer weiteren Ausgabe von „Mellrichstadt liest“ alle Facetten des Fernwehs zu ergründen, wobei Fred Rautenberg, dieses Mal ohne Rudi Glaesner moderierend, einen kundigen Reiseführer abgab und sogar für eine kleine musikalische Einstimmung gesorgt hatte: Hans Albers war es, der da von der Sehnsucht nach der Ferne sang.
Dieses Fernweh entspringe wohl einem Freiheitsdrang, so Fred Rautenberg, dem Wunsch, auszubrechen aus gewohnten Konventionen. Es habe jedoch auch ein fast religiöses Element, wenn sich diese Sehnsucht nicht nur auf fremde Länder richtet, sondern universell wird, wenn der Mensch sich ausströmen will in die Welt, ins Universum und letztlich in Gott. Die Literaturepoche der Romantik symbolisiert diese universelle Sehnsucht in der blauen Blume des Heinrich von Ofterdingen. Eine schöne Illustration der romantischen Sehnsucht lieferte Fred Rautenberg mit zwei Eichendorff-Gedichten.
Die erste Lesende war Astrid Hagen-Wehrhahn mit „Das verborgene Wort“ von Ulla Hahn, einem Roman, der unlängst auch als Verfilmung unter dem Titel „Teufelsbraten“ zu sehen war. In der Welt herumreisen kann die kleine Hildegard freilich nicht, denn sie ist zu Hause im Arbeitermilieu eines kleinen Dorfs im Rheinland, Gewalt und Unverständnis prägen ihre Realität. Ihre Reisen, die zum guten Teil auch Flucht vor der Realität sind, sind gedankliche und literarische: „Du gehst in ein Buch und bist in einer anderen Welt!“
Ein zweiter Beitrag von Astrid Hagen-Wehrhahn, ein Auszug aus Udo Marquardts „Spaziergänge mit Sokrates“, befasste sich mit dem Fern-Sehen, welches den Menschen davon entwöhnt, seinen Horizont selbst zu erweitern – und zwar nicht nur bildlich, sondern auch ganz wörtlich genommen.
Mark Dinglinger stellte Joseph Conrad vor, einen der wenigen Autoren, die den Imperialismus nicht positiv mitgetragen haben. Und tatsächlich klingen in seinem Roman „Herz der Finsternis“, der von der Reise Kapitän Marlowes in den Kongo erzählt, kritische Stimmen an. Skrupellose Geschäftemacher und Mörder begegnen ihm auf seinem Weg, aber auch ein erschossenes und auf der Straße liegen gelassenes Opfer sowie die verlassenen Wohnstätten der Ureinwohner.
Vergnüglicher wurde es mit Sten Nadolnys „Netzkarte“, die Studienreferendar Ole Reuter zu einer Reise quer durch Deutschland nutzt, vielleicht um vor sich selbst zu fliehen, vielleicht, um zu sich selbst zu finden. Die Reise ins Ungewisse führte das Publikum von „Mellrichstadt liest“ in durchaus bekannte Gefilde: Nach Königshofen nämlich, „eine nicht sehr wohlhabende Ackerbürgerstadt“ mit einem schönen Marktplatz und scheuen Katzen, die freundliche Ansprache nicht gewohnt sind. Ein Blick ins Publikum zeigte da das eine oder andere wissende Lächeln und leise Nicken.
Einen ganz anderen Aspekt der Reise eröffnete Gabi Dinglinger mit Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“. Henry nämlich reist nicht von Ort zu Ort, sondern durch seine eigene Lebenszeit. Immer findet er dabei zu Claire, mit der er in der Gegenwart verheiratet ist, die er durch seine Zeitreisen jedoch auch als Fünf- oder Siebzehnjährige kennenlernt. Nicht, dass das der Liebe Abbruch täte: Einen entspannten, glücklichen Sommertag kann Henry zum Beispiel erleben, auch wenn in seiner Gegenwart gerade Januar ist und er mit Claire in einer Ehekrise steckt.
Gekicher und Gelächter erntete Gabi Dinglinger mit Umberto Ecos Anleitung „Wie man in einem Flugzeug speist“ aus der Sammlung „Wie man mit einem Lachs verreist“. Hinreißend humorvoll beschreibt er da die Schwierigkeiten, die sich mit heißer Brühe in Suppentassen ohne Henkel ergeben oder mit Erfrischungstüchlein, deren Verpackung sich äußerlich nicht von der von Salz, Pfeffer und Zucker unterscheidet, was aber immerhin eine interessante geschmackliche Abwechslung in der Kaffeetasse bewirkt.
Für das Ende hatte Fred Rautenberg noch eine kleine Überraschung in petto – den kurzen, rätselhaften und etwas hermetischen Prosatext „Zac“ des Mellrichstädter Schülers und Nachwuchs-Autoren Martin Homberg. Viele seiner knappen Sätze beginnen mit „Zac ist“, doch wer oder was Zac ist, bleibt weitgehend dunkel. Anders ist sie, fremdartig, sie hat ein Tuch, sie hatte einen Freund, sie hat ein Fell und man reagiert auf sie, wie oft, wenn man etwas Fremdem begegnet: Mal mit Abscheu und Hass, mal mit Neugier und Begehren. Unter anderem aber hat Zac auch türkisblaue Augen, die von einer anderen Welt erzählen und sich traurig auf den Horizont richten: das Einzige, was sie in dieser Welt interessiert, und auch wenn sie weiß, dass sie den Horizont nie erreichen wird, so ist dies doch ein schönes Ziel.