Es riecht nach Metallsplittern und Schmier-Öl. Arbeiter wuseln durch die Werkhalle, Maschinen tosen, rumpeln, scheppern. „Bei dem Lärm könnte ich nicht arbeiten“, sagt Annikas Mutter Ingrid Fries, 45, die ihre Tochter am Arbeitsplatz besucht.
Für Annika Fries ist es ganz still in der Halle. Als die Bischofsheimerin eineinhalb Jahre alt war, erkrankte sie an einem Virus. Seither ist sie taubstumm. Hochkonzentriert steht die 22-Jährige am Computerbildschirm und gibt Daten ein. Sie ist im dritten Ausbildungsjahr zur Zerspanungsmechanikerin, Fachrichtung Frästechnik.
Und die einzige von drei Auszubildenden, die schon voll Schicht arbeitet, wie Gerhard Wallrab, Leiter der Großmechanik, stolz verkündet. „Wenn Annika verstanden hat, arbeitet sie mit einem besonderen Selbstbewusstsein“, sagt Ausbilder Enders. Ihr Wille, die Arbeit zu bewältigen, hat ihn beeindruckt. „Sie lässt sich nicht so leicht ablenken wie andere“, sagt Mutter Ingrid und stockt.
Jahrelang war Annika Fries weg von zu Hause, auf der Schule in Würzburg und in der Nähe von Stuttgart, immer im Internat. Es war ihr Traum, in die Heimat zurückzukommen. „Sie wollte hier ihr Glück versuchen. Der Ausbildungsplatz bei Berner war wie ein Sechser im Lotto“, erzählt die Mutter.
„Im Berufsbildungswerk Nürnberg haben sie uns gesagt: Seht zu, dass ihr einen Ausbildungsplatz in der freien Wirtschaft bekommt. Damit die sehen, was Annika leisten kann“, erzählt die 45-Jährige. Einfach war das nicht. Über 60 Bewerbungen hat die Bischofsheimerin geschrieben. Zu Berner kam sie über ein Praktikum.
Seit den 80er Jahren ist sie das erste Mädchen, das im gewerblichen Bereich bei Berner ausgebildet wird. Die Maschinenfabrik musste extra Umkleideräume und Sanitäranlagen für Frauen schaffen. Und Lampen an den Maschinen anbringen lassen. Deren grünes Licht signalisiert Annika, dass die Maschine in Betrieb ist. „Wir hatten keinerlei Erfahrung mit Behinderung, weder privat noch beruflich“, erzählt Enders, „wir haben gesagt: Man muss es ausprobieren.“ Annika hatte verschiedenste Praktika gemacht, der Metallbereich gefiel ihr am besten. Warum sie sich für diesen nicht ganz frauentypischen Beruf entschieden hat? „Es macht Spaß“, sagt sie. Den Satz liest man ihr halb von den Lippen, halb versteht man die Laute aus ihrem Mund. Sie zuckt mit den Schultern und lächelt. Mehr gibt's dazu nicht zu sagen, soll das wohl heißen.
Annika Fries kämpft mit den Worten. Die Anspannung merkt man ihr an. Es gibt Tage, an denen fällt ihr das Reden leichter als an anderen, sagt die Mutter: „Sie besucht regelmäßig eine Logopädin. Wir kämpfen immer noch weiter.“
Geduld ist Annikas Stärke. Auch wenn ihr Gegenüber nicht sofort versteht, verzieht die 22-Jährige keine Miene. Hat sie gelernt, Enttäuschungen zu verbergen? Vielleicht enttäuschen sie Missverständnisse dieser Art schon lange nicht mehr.
Vieles ist vielleicht. Die richtige Frage, denkt man, die richtige Frage müsste man stellen und mehr Zeit haben. Vielleicht würde sie dann erzählen. Erzählen, dass sie 2001 die Goldmedaille bekam, bei der deutschen Skimeisterschaft der Gehörlosen. Damals war sie 15.
Vielleicht würde sie erzählen, dass sie manchmal einsam ist in Bischofsheim. Weil sie jahrelang weg war, sagt die Mutter, hat sie in der näheren Umgebung nur wenig gleichaltrige Freunde. Vielleicht würde sie auch von ihrem Freund aus Aschaffenburg erzählen, der ebenfalls gehörlos ist und zweihundert Bewerbungen geschrieben hat, um in ihre Nähe zu kommen. Vorerst erfolglos.
Annika Fries diszipliniert ihr Gegenüber. Damit sie von den Lippen ablesen kann, muss die Aussprache sauber sein. Gedankensprünge verzeiht sie nicht. Dann steigt sie aus, blickt unauffällig zur Mutter, die gestikulierend eingreift.
„Klare Absprachen sind wichtig“, sagt Ausbilder Enders. Anfangs haben sie mit Folienstiften auf einer Tafel kommuniziert, dann ihre Botschaften in einen Computer getippt. Richtig gut funktionierte das nicht. „Es dauerte Annika einfach zu lange“, sagt Enders. Mit der Zeit haben sie ihre ganz persönlichen Zeichen entwickelt. Der Mix aus Zeichensprache und Lippenlesen funktioniert heute reibungslos.
Zuerst, sagt er, hätten sie Annika mit Samthandschuhen angefasst. „Aber sie möchte keine Sonderstellung“, sagt er. Die 22-Jährige träumt von Normalität. Mittlerweile sind die Kollegen frecher geworden. Die ein oder andere Neckerei muss sie schon abkönnen.
Als sie der Mutter ihren Umkleideraum zeigt, witzelt Enders: „Eine halbe Stunde braucht sie dort drinnen, Frauen halt.“ Annika blickt spöttisch, tippt mit dem Zeigefinger gegen ihre Schläfe. Zehn Minuten höchstens, widerspricht sie gestikulierend. Er brauche vielleicht eine halbe Stunde.
Später dreht sich Enders kurz weg. Er will nicht, dass sie seine Lippen liest: „Wir sind stolz auf unsere Annika“, sagt er. Dass der Ausbilder etwas murmelt, hat Annika mitbekommen. Entrüstet baut sie sich vor ihm aus, mit drohender Geste, eine kleine Gemeinheit vermutend. Enders hebt entwaffnend die Hände, schlägt sich anschließend mit der Faust gegen seine Brust: „Wir sind stolz auf Dich!“
Auf dem Weg nach draußen bietet er ihr den Arm, sie henkelt sich ein, ganz selbstverständlich. Ohne Worte. „Annika gehört zu uns. Sie hat hier ihren Platz gefunden“, sagt der Leiter der Großmechanik Wallrab.