Wo war ich am glücklichsten? Diese Frage stellte sich Arnulf Haury, als er in den Ruhestand gegangen war. Als er die Antwort fand, wusste der 74-Jährige, wie er seinen Ruhestand verbringen wird. Nämlich unterwegs in der Natur. „Also bin ich los!“
Das war im Jahr 2000. Ursprünglich als eine Therapie gegen die eigene Unzufriedenheit konzipiert, entwickelte sich sein Vorhaben zu jährlich wiederkehrenden mehrmonatigen Unternehmungen, die Haury tatsächlich Glück und Zufriedenheit einbringen.
Die finanziellen Voraussetzungen für seine langen Touren schuf der Beruf als Gymnasiallehrer. Seine Frau Inge ist tolerant und lässt ihren Mann durch die Welt ziehen. Haurys Fitness und seine reichhaltigen Erfahrungen ermöglichen ihm das Leben seines Traumes.
Zwei Tage lang war er nun zu Gast in der Pension Baier in Oberbach. Herbert Baier betreibt seit 1,5 Jahren eine kleine Pension mit fünf Zimmern in der Dorfmitte. Auch der für die Pension exotische Besucher Haury wurde, wie alle Gäste, herzlich aufgenommen. Die Mahlzeiten nahm er im Kreise der Familie ein, denn der kleine Frühstücksraum der Pension ist geschlossen.
Den Tipp, den Kreuzberg zu besuchen, erhielt Haury von seinem Gastgeber Herbert Baier. Und als der rüstige Rentner am Samstag eine Tasche in Oberbach vergaß, kümmerte sich der Pensionswirt darum, seinem Gast diese wieder zukommen zu lassen. Er kannte das nächste Ziel Haurys und gab die Tasche einem Verwandten mit. Als Haury in der Gersfelder Jugendherberge eintraf, den Weg dorthin hatte er in gemütlichen 3,5 Stunden bewältigt, fand er die vergessene Tasche bereits vor.
Zu Ende denken ohne Streß
Solche positiven Erlebnisse, ebenso wie viele andere, große und kleine Beiläufigkeiten, unzählige Begegnungen mit Menschen, Gespräche, aber auch Natur pur, Zeit für sich selbst und Gelegenheit seinen Gedanken ungestört nachhängen zu können, sie zu Ende zu denken, in Frieden, gänzlich ohne Stress, das ist es, was Haury immer wieder in seinem Tun bestärkt. Nichts davon begreift er als Selbstverständlichkeit. Dankbar und entschleunigt gestaltet er sein Leben. Er selbst beschreibt es als „einen steten Fluss voll Freude“. Felsenfest ist der 74-jährige entschlossen, das so wunderbare Geschenk des Lebens weiter auszukosten.
Nach der Pensionierung sei er in das berühmte Rentnerloch gefallen und zum Meckerer geworden, erzählt der 74-Jährige. Seine Ehefrau Inge sah das wohl so und ließ ihn ziehen, als Haury den Entschluss fasste, seine Laune durch eine erste Tour zu bessern. Die beiden schreiben sich jeden Tag einen Brief. Haury ruft täglich zuhause in Lauffen am Neckar an und tauscht sich mit seiner Frau aus. Manchmal besucht sie ihn unterwegs und begleitet ihn ein Stück auf seiner Tour.
Der ehemalige Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Mathematik war im Alter von neun Jahren zu den Pfadfindern gekommen. Als Student leitete er eine Gruppe. Auch in seinem Berufsleben lebte er seine Leidenschaft und das Bedürfnis nach Natur aus. Er organisierte Schülerwanderungen, um dem starren Schulalltag etwas entgegenzusetzen.
2000, ein Jahr nach seiner Pensionierung, startete Haury zu seiner ersten längeren Tour, damals noch zu Fuß. Sein Gepäck verstaute er auf einer voll beladenen Wanderkarre, die er „Kamerad Kuddel“ taufte. Auf dieser Tour legte er innerhalb von 133 Tagen 2624 Kilometer zu Fuß zurück.
26 000 Kilometer zu Fuß
Seine Wege führten Haury im Lauf der Jahre kreuz und quer durch Deutschland. Auch die Rhön hat er bereits bereist. Sechs Jahre lang war Haury jeweils von März bis Oktober zu Fuß unterwegs. Über 26 000 Kilometer legte er in diesem Zeitraum zurück, ausschließlich in Deutschland. Unterwegs ließ er kaum ein Museum aus.
2007 stieg Haury wegen Hüftproblemen auf ein Halbliege-Dreirad um, das den Namen „Freundin Rieke“ erhielt. In bewusster Langsamkeit legt er damit pro Tag nicht mehr als etwas mehr als 20 Kilometer zurück.
Die Wintermonate zuhause bei seiner Frau in Lauffen nutzt Haury, um die Tour des nächsten Jahres akribisch vorzubereiten. Übernachtungen bucht er bevorzugt in kleinen Pensionen wie der der Baiers in Oberbach.
Oft erwarten ihn in den Quartieren schon die Briefe seiner Frau. Auch als er am Samstag in der Jugendherberge in Gersfeld eintraf, erwartet ihn bereits einer.