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Sehnsucht nach drüben

Mellrichstadt

Sehnsucht nach drüben

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    Der Autor: Gerhard Schätzlein wohnt seit Jahrzehnten in Filke, das bis 1989 durch die Grenze zur DDR nahezu eingeschlossen war.
    Der Autor: Gerhard Schätzlein wohnt seit Jahrzehnten in Filke, das bis 1989 durch die Grenze zur DDR nahezu eingeschlossen war. Foto: Foto: Steffen Standke

    Klaus Seifert hatte eine Bombenidee: Der 17-Jährige aus Bibra im heutigen Landkreis Schmalkalden-Meiningen wollte sich am 9. April 1971 mittels eines Seils über die verminten Grenzanlagen der DDR in den Westen hangeln. Das misslang. Seifert trat auf eine Mine und starb Wochen später an den Folgen des Fehltritts. Gerhard Schätzlein aus Filke hat das Schicksal Seiferts und vieler weiterer Menschen aufgeschrieben, die an der innerdeutschen Grenze sterben mussten. Sein neues Buch „Flucht aus der DDR. Von 1950 bis 1989“ stellt der 78-Jährige am 27. August um 18.30 Uhr in der Gedenkstätte Point Alpha bei Geisa vor.

    Seiferts Plan ging von Anfang an schief. Der 17-Jährige wollte die DDR wegen Problemen im Betrieb verlassen. Und weil seine Freundin von ihm ein Kind erwartete, erzählt Schätzlein. Zwei Kumpels sollten ihn begleiten und auch helfen.

    Die Idee: ein mit einem Widerhaken versehenes Seil über den mit Minen gespickten Grenzbereich werfen. Der Haken sollte sich im Zaun verfangen. Das andere Ende des Seiles hätten die Jugendlichen an einem Baum festgebunden und sich über das Minenfeld in die Freiheit gehangelt.

    Einen der Eingeweihten verließ schon vor der Aktion der Mut. Er blieb daheim. Klaus Seifert zog mit dem anderen in der Nacht zum 10. April los – zur Grenze zwischen Schwickershausen und Mühlfeld. Bald merkten die beiden, dass ihr Plan aussichtslos war. Die DDR hatte ihre Grenze mit Zäunen, Gräben und Kontrollstreifen so breit gesichert, dass jeglicher Wurfversuch scheitern musste.

    Am frühen Morgen gab auch der Begleiter auf. Er lief Richtung Schwickershausen davon. Seifert musste es allein wagen. Doch als er die Zone zwischen den beiden Grenzzäunen durchquerte, trat er auf die Mine. Sie riss ihm den linken Fuß bis in Knöchelhöhe ab. Seifert schleppte sich auf bundesdeutsches Gebiet – und blieb liegen. Dort fand den Flüchtling am Morgen des 10. April 1971 Jagdwächter Ewald Rapp bei einer Revierfahrt. Die Explosion der Mine hatte er nicht gehört, aber einen Wagen der Grenztruppen in der Nähe gesehen. Und Seifert hatte ihn durch Pfiffe auf sich aufmerksam gemacht.

    Nach der Flucht gestorben

    Der 17-Jährige kam zunächst ins nahegelegene Mellrichstädter Kreiskrankenhaus. Dort ging es ihm nach einer Operation zunächst besser. Doch einen knappen Monat später erlitt er nach Schätzleins Angaben wahrscheinlich einen Wundstarrkrampf. Klaus Seifert starb in einem Schweinfurter Krankenhaus am 4. Mai 1971.

    Sein Begleiter wurde in der Fluchtnacht in Schwickershausen von einem Polizisten aufgegriffen. Die DDR-Justiz verurteilte ihn wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall“ zu einem Jahr und sechs Monaten Haft. Auch durfte er die Fünf-Kilometer-Sperrzone nicht mehr betreten. Beim auch eingeweihten Freund wurde die gleiche Strafe zur Bewährung ausgesetzt.

    Gerhard Schätzlein recherchierte diesen Fall umfassend. Er sprach mit Ewald Rapp und einem beteiligten Grenzpolizisten auf bundesdeutscher Seite. Wer weiß: Vielleicht wären sich Schätzlein und der Flüchtling in der Fluchtnacht sogar zufällig begegnet. Der frühere Lehrer wohnt seit 1959 in Filke – nur wenige Kilometer von dem Punkt entfernt, wo Seifert versuchte zu fliehen.

    Sein Schicksal und das vieler anderer beleuchtet Schätzlein in seinem Buch. Sie ergreifen den Leser, lösen oft Betroffenheit aus. Die Geschichten zeigen, dass es immer schwierig war, aus der DDR zu entkommen. Egal,ob es über die anfangs noch grüne, später durch Zäune, Minen und Selbstschussanlagen fast unüberwindlich gewordene Landgrenze war. Oder per Boot übers Meer, im Ballon durch die Luft oder den Umweg über die „sozialistischen Bruderländer“.

    Immer musste der Flüchtling mit Verletzungen und gar Tod rechnen. Und dass er – einmal gefasst – zu empfindlichen Freiheitsstrafen verurteilt werden würde. Letztlich schafften laut Schätzlein nur acht Prozent der Menschen die Flucht in den Westen. Der Rest wurde von den Truppen an der Grenze sowie von Volks- und Transportpolizei im Landesinnern oder schon am Wohnort abgefangen. Das belegt eine Auswertung des Ministeriums für Staatssicherheit des Bezirkes Suhl von 390 Fluchtfällen zwischen 1982 und 1985.

    Schätzleins 444-Seiten-Werk deckt die Vorgänge im Bereich des DDR-Grenzkommandos Süd ab, der über 600 Kilometer vom Harz im Norden bis zur tschechischen Grenze im Süden reichte. Und das alles in einem Zeitraum von fast 40 Jahren.

    Logisch, dass er nicht jeden Fall gelungener oder gescheiterter Flucht so genau beleuchten kann wie den von Klaus Seifert. Es wären zu viele gewesen. „Aber da, wo es mir aussichtsreich erschien nachzuforschen, habe ich es getan“, so der 78-Jährige.

    Bei einigen erfolgreichen Fluchten scheute Schätzlein die Nachforschungen. So im Fall Werner Weinhold. Der Fahnenflüchtige der Nationalen Volksarmee erschoss im Dezember 1975 auf seiner gelungenen Flucht bei Hildburghausen zwei Grenzposten. Dafür drohte ihm in der DDR die Todesstrafe; ein bundesdeutsches Gericht sprach ihn zunächst frei. Später erhielt Weinhold eine Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren.

    Diesen Flüchtling, der nach Schätzleins Wissen noch irgendwo in Deutschland lebt, zu treffen und zu befragen, wäre für den Filker unvorstellbar gewesen.

    Natürlich bilden die Einzelschicksale den Kern des Buches. Aber Schätzlein wirft auch einen Blick auf die politischen und persönlichen Beweggründe für die Flucht aus der DDR, auf Aktionen von Regierung, Grenztruppen und Stasi, diese zu verhindern. Diese kleineren Geschichten helfen, die Zeit und die Umstände zu verstehen, aus denen heraus es zu Fluchtversuchen kam.

    Fluchthilfe über die Autobahnen

    Schätzlein berichtet aber auch über den ungeheuren Einfallsreichtum und Wagemut, mit dem Fluchtwillige aus der DDR zu entkommen suchten, übers Wasser, durch die Luft. Sie erzählen vom Gelingen und vom Scheitern in den „sozialistischen Bruderländern“ und von der Fluchthilfe auf den Interzonenautobahnen nach 1972. Über viele Bilder, Karten und Grafiken können Leser sowohl die Umstände als auch die Einzelschicksale besser nachvollziehen.

    Die Grundlagen für sein Buch legte Gerhard Schätzlein zwischen 1998 und 2004. Damals trug er Infos aus den Tagesmeldungen der DDR-Grenztruppen von 1948 bis 1989 und der bundesdeutschen Grenzpolizei, dazu Berichte des Ministeriums für Staatssicherheit zusammen. Die Stasi forschte stets nach einer Grenzverletzung vor Ort nach, schrieb umfangreiche Berichte. Schon diese Arbeit geriet aufwendig. Die Tagesmeldungen der Grenztruppen lagern beispielsweise im Deutschen Militärarchiv in Freiburg. Schätzlein durchstöberte es fünf bis sechs Wochen lang.

    Aber nur so gelang es ihm, Name, Geburtsdaten und Wohnorte der Flüchtigen zu erfahren. Mit diesen Unterlagen konnte er gezielt bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR – im Volksmund Gauck-Behörde – nachfragen. „Ich habe Informationen auf etwa 10 000 Blatt gesammelt“, sagt der 78-Jährige stolz. Sie halfen ihm, sich mit früheren Republikflüchtlingen in Verbindung zu setzen. In einigen Fällen sprach er mit den Eltern, falls er die jetzige Anschrift des Gesuchten nicht kannte.

    Als Gerhard Schätzlein sein Material zusammentrug, plante er nicht, es in ein Buch zu fassen. Er wollte es sammeln „in der Hoffnung, dass es mal irgendwo verwertet wird“. Doch dann entdeckte Volker Bausch, der Direktor der Point-Alpha-Stiftung, Schätzleins Schätze. Es kam der Vorschlag auf, dass dieses und drei weitere Grenzmuseen Geschichten aus ihren Bereichen für eine Publikation liefern sollten. Doch wie es manchmal so ist: Die Arbeit blieb letztlich an Schätzlein selbst hängen, berichtet er.

    Auch die Arbeitsgruppe „SED-Staat“ an der freien Universität Berlin wurde auf die Sammlung des Filkers aufmerksam. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die genaue Zahl der Grenztoten und deren Schicksal aufzuklären. Wie schwer das ist, wurde Schätzlein bei der Zusammenarbeit mit den Forschern bewusst. Gab es doch nicht nur die DDR-Bürger, die am Grenzzaun tragisch scheiterten.

    In den vielen Jahren Grenzregime lebte es sich auch unter den Bewachern gefährlich. Es geschahen zahlreiche Unfälle und Selbstmorde. Und wer zählt die Toten, die beim Fluchtversuch in der Ostsee ertranken und nie wieder auftauchten?

    So merkte Schätzlein schnell, dass er seinen ursprünglichen Titel „Flucht an der Grenze“ nicht aufrechterhalten konnte. „Flucht aus der DDR“ wirkt weiter gefasst.

    Auf eigene Faust

    Gerhard Schätzlein hat sein Buch nun auf eigene Faust herausgebracht. Die Hessische Staatskanzlei förderte das Projekt mit einer vierstelligen Summe. Deswegen kann er sein Werk nun für 25 Euro anbieten. Es kann im Buchhandel bestellt werden.

    Der Filker hofft, dass Menschen sein Werk lesen, die selbst von Flucht betroffen waren, aus dem Grenzgebiet stammen, dort gedient haben oder einfach nur zeitgeschichtlich interessiert sind. Auch sammelt er weiter Fluchtgeschichten. Berichtigungen zu den Vorliegenden nimmt er unter Tel. (0 97 79) 82 07 entgegen. Und er hat sich ein weiteres Projekt in den Kopf gesetzt: möglichst auch die Zeit zwischen 1945 und 1950 in ein Buch zu fassen. Doch dazu, sagt er, gibt es wenig Material.

    Gerhard Schätzlein: Person und Werke

    Schon lange lebt der am 2. Januar 1937 in Nürnberg geborene Gerhard Schätzlein in Unterfranken und der Rhön. Er wuchs in Gleisenau, Landkreis Haßfurt, auf. Nach der Volksschule und dem Gymnasium in Haßfurt studierte er an der Pädagogischen Hochschule in Bamberg Lehramt. 1959 übernahm Schätzlein die einklassige Volksschule in Filke. Seit 1974 war er Oberlehrer an der Grundschule Willmars, seit 1979 Konrektor an der Grundschule Ostheim bis zur Pensionierung 2001. Der 78-Jährige wohnt seit 1959 im alten Schulhaus in Filke. Er ist verheiratet, hat zwei Töchter und vier Enkel.

    Von 1980 bis 1996 leitete Schätzlein als ehrenamtlicher Bürgermeister die Geschicke der Grenzgemeinde Willmars, zu der Filke gehört. Von 1972 bis 2001 saß er im Kreistag Rhön-Grabfeld. Seit 1974 veröffentlichte der Autor geschichtliche, heimatgeschichtliche und volkskundliche Beiträge in der Rhönwacht, im Jahrbuch des Kreises Rhön-Grabfeld und in der Presse. 1972 erschien die Broschüre „Filke, ein Ortsteil von Willmars“, 1985 das Buch „Steinkreuze und Kreuzsteine im Landkreis Rhön- Grabfeld“ und 1994 zusammen mit anderen „Hermannsfeld und Umgebung“.

    1996 erschien unter seiner Mitarbeit die Broschüre „Führer für den Naturlehrpfad Fasanerie (Hermannsfeld)“; 1997 und 1998 verfasste Schätzlein die Infotafeln zum „Friedensweg“ entlang der ehemaligen Grenze zwischen Thüringen und Bayern.

    1992 erstellte er gemeinsam mit Bärbel Rösch und vielen Helfern die Fotoausstellung „Grenzerfahrungen“, aus der die erste Broschüre über die Grenze „Grenzerfahrungen 1945 bis 1990“ veröffentlicht wurde. In der Folge entstand die dreibändige Buchreihe „Grenzerfahrungen“. Dem Zusammenbruch des Verlags geschuldet erschienen geplante weitere Bände nicht mehr. Gerhard Schätzlein schrieb auch über die Adelsfamilie von Stein in Ostheim und Nordheim, über Kinderheim und Kindergarten in Willmars von 1884 bis 2009, die Gemeinde Rhönblick und den Reichsarbeitsdienst in der Rhön von 1932 bis 1945.

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