New York, Barcelona, Singapur und andere Metropolen kleben als Tapetenstreifen an der Wand des Kinderzimmers in der Stettener Straße in Hausen. Draußen hat sich der Winter zurückgemeldet in der Rhön. Weißer Flaum hat sich über die Straßen und Felder gelegt.
Im Kinderzimmer sitzt Muktar mit seinen Freunden Rezaq und Allahdad. Der Raum ist abgedunkelt, auf der Kommode und auf einem kleinen Tischchen flackern Teelichter. Die Freunde lehnen im Schneidersitz an der Wand, versunken in ihre Lektüre. Ihre Lektüre ist der Koran, genauer gesagt 31 ganz bestimmte Abschnitte daraus, Suren genannt.
Auf dem Tisch in der Mitte liegt ein roter Schuber mit den Suren als dünne Hefte. Daneben steht eine Flasche mit Rosenwasser und das Bild von Lailoma.
Trauer um die verstorbene Nichte
Lailoma ist die Nichte von Muktar Nazari, dem afghanischen Flüchtling. Vor zwei Jahren kam er nach Rhön-Grabfeld und lebt nun in Hausen. Die Familie Krick hat den 19-Jährigen bei sich aufgenommen. Am heutigen Tag feiert er, wie es muslimischer Brauch in seinem Land ist, Abschied von Lailoma, die nach schwerer Krankheit vor einigen Tagen gestorben ist. 16 Jahre war sie erst alt, aber schon verlobt.
40 Freunde und Bekannte werden in dem Hausener Einfamilienhaus erwartet zu dieser muslimischen Art des Leichenschmauses. Seit dem Morgen wird geschnippelt und gekocht für die Trauergemeinde. Muktar möchte fern seiner Heimat den ihm vertrauten Brauch leben. „Es ist doch egal, ob man Jude ist oder Christ oder Muslim. Aber jeder soll seinen Glauben leben dürfen“, sagt Muktar.
Trauer und Hoffnung auf die Ewigkeit
Immer wieder betreten andere Männer den Raum im ersten Stock, setzen sich auf den Boden und beginnen mit der Lektüre. „Es sind besondere Suren, die sich mit Trauer und Hoffnung oder mit Ewigkeit befassen“, erklärt Muktar. Bevor die jungen Männer mit der Koranlektüre beginnen, waschen sie ihre Hände im Bad und dann noch einmal mit duftendem Rosenwasser.
Muktar ist die Aufregung anzumerken. Aus der ganzen Region kommen seine Freunde, aus der oberen Rhön um Fladungen oder Heufurt ebenso wie aus Bad Neustadt, Bastheim oder Bad Königshofern am anderen Ende des Landkreises. Die meisten kennt er von der ehemaligen Gemeinschaftsunterkunft in Bad Neustadt. Und bei Muktars Pflegeeltern Heike und Peter Krick ist die Nervosität nicht viel geringer.
Als Pflegekind aufgenommen
„Ich habe Muktar in der Jugendunterkunft in Mellrichstadt kennengelernt. Er war zu Beginn kein einfacher Fall“, sagt Heike Krick. Muktar hat ein Borderline-Syndrom. Er verletzt sich immer wieder selbst, viele Narben und kleine Wunden an seinen Armen zeugen davon. Seit er im September 2016 zu seiner Pflegefamilie gezogen ist, hat sich der junge Mann stabilisiert, er kämpft aber bis heute mit einem posttraumatischen Syndrom. In Kabul hat Muktar auch viel Leid und Kriegsschrecken erlebt, sein Bruder ist bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen.
Die Kricks haben Muktar nun als Pflegekind aufgenommen. Der Landkreis bezahlt nur die Sozialhilfe, für die Unterbringung kommen die Kricks auf, weil Muktar schon volljährig ist. Nachdem auch die jüngste Tochter ausgezogen war, fand Muktar in deren Kinderzimmer ein neues Zuhause. „Ich wurde schon gefragt, warum ich mir das antue und den Jungen zu mir hole. Aber es gibt Dinge, die muss man einfach tun“, sagt Heike Krick.
Heike Krick ist die einzige Frau im Haus
In der Küche im Erdgeschoss stehen große Schüsseln mit dem Gemüse. Karotten, Salat, Gurken. Ein großer Kochtopf mit Reis dampft vor sich hin, aus einem CD-Player mit Boxen ruft jemand scheppernde Koranverse in die Stube. Heike Krick ist die einzige Frau im Haus. Ansonsten ist es eine reine Männerwelt, die sich hier zum Abschied für Muktars Nichte trifft.
Muktar muss aus der Speisekammer scharfe Chili holen, die er im syrischen Lebensmittelladen in Bad Neustadt gekauft hat. Später wird das Hühnchenfleisch dazu kommen, um ein typisch afghanisches Festessen zuzubereiten. Die Freunde schnippeln Gemüse. „Onkel“, wie sie den älteren Flüchtling mit dem verschmitzten Lächeln nennen, wacht über den Reistopf.
Ein Stück Afghanistan dampft in der Hausener Küche
Ein Stück Afghanistan dampft in der Hausener Küche, der Glaube der Heimat wird im Kinderzimmer gelebt. Wichtig für Muktar, der Ende 2015 ohne seine Familie nach Deutschland kam. Muktar will Fuß fassen in Deutschland. Zum 1. August beginnt er eine Ausbildung zum Koch im benachbarten Rhön-Park-Hotel, bei einem Praktikum hat er den Chefkoch überzeugt. Auch seine beiden Freunde Rezaq und Allahdad beginnen eine Ausbildung in dem Hotel.
„Es ist unheimlich schwer, alles zurückzulassen so wie Muktar. Aber viele Deutsche hinterfragen das gar nicht“, findet Heike Krick. Derzeit ist Muktar ein geduldeter Asylbewerber, seine Depressionen aufgrund seines posttraumatischen Syndroms machen ihn aber reiseunfähig.
Rituale der Trauer
Was die Trauerfeier für seine Nichte betrifft, so müsste er an vier Freitagen in einer Moschee eine solche Andacht halten, was er natürlich nicht leisten kann. Auch zum Todestag der Nichte soll er nach islamischen Regeln jährlich beten. Und 40 Tage muss Muktar um seine Nichte trauern. Allzuweit weg vom katholischen Totengedenken ist eine solche Praxis nicht. Nach islamischer Sitte wird auch zu besonderen Anlässen das Grab gereinigt. „Muktar hat das schon beim Grab meiner Mutter hier in Hausen gemacht und für meine Mutter gebetet, das ist doch sehr lieb“, sagt Heike Krick.
Es ist späterer Nachmittag geworden, Dutzende Freunde Muktars sind eingetroffen. Das islamische Festessen „Qabole Palw“ mit dem Gemüse, dem Geflügel, Rosinen und reichlich Kreuzkümmel wird bald seinen besonderen Duft in die Wohnräume ausbreiten. Muktar, der Flüchtling aus Afghanistan, fühlt sich gut. Die Feier für seine Nichte schafft ihm auch ein Stück Heimat in der Fremde. Muktar sagt zum Abschied: „Darum geht es doch, wir sind doch auch Menschen“.