„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, / Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte.“ So lauten die beiden ersten Verse von Homers Epos „Ilias“, und damit begann auch David Henkes seinen Vorlesenachmittag in der Gaststätte „Bei Damir am Markt“. Denn treffender hätte er kaum ein Zitat aus der Weltliteratur finden können für das Thema, unter dem die neue Ausgabe von „Mellrichstadt liest“ stand: Zorn – eine der sieben Todsünden.
Achilles hatte auch einigen Grund, zornig zu sein, erläuterte Henkes den Zusammenhang. Denn der anmaßende Agamemnon hatte ihm sein „Ehrengeschenk“, die süße Briseis, weggenommen. Nur das Eingreifen der Göttin Athene verhindert, dass Achill mit dem Schwert auf den König von Mykene losgeht.
Zorn entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern hat eine Ursache, wie Homer lehrt. Aber das tut auch Stephen King in vielen seiner Erzählungen, etwa in „Kains Aufbegehren“. Bei dieser Geschichte wurde aber nicht so recht klar, was die Zentralfigur Garrish so erbost, dass er von seinem Studierzimmerfenster aus wahllos Menschen erschießt. Er sieht sich wohl in einer Rolle wie der biblische Kain, hat sich aus einem vertrackten Gottes- und Menschenbild heraus zum bösartigen Misanthropen entwickelt und glaubt, aus Hass diesem Gott Menschenopfer bringen zu müssen.
In seinem historischen Roman „Die Säulen der Erde“ erzählt Ken Follett, wie der Erzbischof von Canterbury, Thomas Becket, von Mördern in seiner Kirche vor den Augen der versammelten Gemeinde erschlagen wird. Der Prior des Klosters von Kingsbridge und Freund von Becket ist unmittelbarer Augenzeuge. Aus dem Schock über die ruchlose Tat entwickelt der Mönch eine unbändige Wut und initiiert einen Proteststurm gegen diese Form des Unrechts. Becket aber wird sofort als Märtyrer und Heiliger vom Volk begriffen und verehrt.
Der zwölfjährige Oskar wird in dem Roman „So finster die Nacht“ von John Ajvide Lindqvist von drei anderen Jungen systematisch gedemütigt und tyrannisiert. Niemand kann ihm helfen, weder seine Mutter noch die Lehrer – nur seine Freundin Eli ermutigt ihn, sich zu wehren, was Oskar dann auch tut und einen seiner Peiniger fast erschlägt. Henkes warnte empfindliche Seelen vor dem Lesen dieses Romans, denn in dieser Horrorgeschichte kommen viele schaurige Szenen vor, auch deswegen, weil Eli in Wirklichkeit ein Jahrhunderte alter Vampir ist, der frisches Blut zum Überleben braucht.
Einen kräftigen Schuss sarkastischen Humors findet der Leser in Joan Aikens Erzählung „Der gute alte Fillikin“. Auch hier geht es etwas mystisch zu, denn dieser Fillikin – was ist der eigentlich? Eine Ausgeburt der Fantasie? Oder ein unheimliches Wesen, dessen Hilfe man in Anspruch nehmen kann? Auf jeden Fall ist diese Erzählung die Geschichte eines Schülers, der seine ihn fast schon sadistisch quälende Mathematiklehrerin aus tiefstem Herzen hasst. Doch Fillikin erlöst ihn von dieser Schreckschraube, zumindest legt einem der Erzähler das nahe. Denn die Lehrerin wird nach einem Herzanfall tot aufgefunden.
Grotesk geht es auch in Ephraim Kishons Erzählung „Der Abend des langen Messers“ zu. Darin geht es um einen Jungen, der in Israel an einem Kampftraining zur Abwehr von Attentätern teilgenommen hat und nun einen Besucher bei seinen Eltern herausfordert: Er solle mit einem Messer auf ihn losgehen und sehen, was dann passiert. Der Ich-Erzähler weigert sich anfangs, wird aber so lange genötigt, bis er dem kruden Wunsch des Jungen nachkommt. Der tritt ihm kräftig gegen das Schienbein, den Erzähler packt die Wut und er geht wirklich mit dem Messer auf den Balg los und jagt ihn durch die ganze Stadt, bis schließlich alles ohne Blutvergießen endet.
Im April wird die Serie mit literarischen Beiträgen zum Rahmenthema „Die sieben Todsünden“ mit Texten zum Thema „Stolz“ fortgesetzt.