Brasilien, flächenmäßig größtes Land Südamerikas, hat eine bewegende Geschichte, die vom verheerenden Schicksal ihrer Ureinwohner, von portugiesischer Kolonialherrschaft, Unabhängigkeitsbestrebungen und Ende des letzten Jahrhunderts von einer Militärdiktatur geprägt wurde. Es ist eine Nation, deren mannigfaltige und lebendige Kulturlandschaft sich immer wieder neu erfinden musste – eine Eigenschaft, die sich auch in der vielschichtigen Literatur des Landes widerspiegelt. In diesem Jahr war Brasilien Ehrengast der internationalen Frankfurter Buchmesse. Dies nahmen die Organisatoren der Vorlesereihe „Mellrichstadt liest“ zum Anlass, brasilianische Literatur in ihrer Novemberausgabe vorzustellen.
Das Moderatorenteam Janette Fraas und Fred Rautenberg sowie die Gastvorleserinnen Peggy Geßner und Astrid Hagen-Wehrhahn trugen im Café Art der Kreisgalerie einige Geschichten aus diesem Land voller Gegensätzlichkeiten vor.
Brasilianer und Fußball
Den Anfang machte Fred Rautenberg mit dem amüsanten Stück „Feldpredigt“ des Autors Carlos Drummond de Andrade (1902-1987). Der Titel geht darauf zurück, dass es im Stil der biblischen Bergpredigt geschrieben wurde. In der Geschichte wird die fanatische Liebe der Brasilianer zu „ihrem“ Fußball auf humorvolle Weise aufs Korn genommen.
„Brasilien, Brasilien“ lautet der Titel eines Romans von Joao Ubaldo Ribeiro, der inzwischen zu den Klassikern der brasilianischen Literatur gehört. Der 72-jährige Erfolgsautor erzählt darin die Liebesgeschichte zweier Menschen, deren Temperament und Anschauungen unterschiedlicher nicht sein können: Maria kämpft im Untergrund für die Abschaffung der Sklaverei, und Patrício, ein raubeiniger Kommandant und Sklavenhalter, ist ihr Gegenspieler. Gleichzeitig lässt Ribeiro in seinem Buch aber auch die Kräfte und Widersprüche dieses überbordenden Landes spürbar werden. Er erzählt von Ureinwohnern im Regenwald, von europäischen Abenteurern, Sklaven, Kirchenheiligen, schwarzen Walfängern und brutalen Zuckerrohrbaronen, von ihren Taten und Untaten, ihren Leidenschaften und Kalkülen, wie auch in der Textpassage, die Janette Fraas dem Publikum vorstellte, deutlich wurde.
Doch Ribeiro ist nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch Journalist und Kolumnist. Als solcher machte er 1990 ein Volontariat in Berlin und schrieb für die Frankfurter Rundschau Kolumnen, in denen er liebevoll-ironisch von seinen Eindrücken, Beobachtungen und Erfahrungen mit den Deutschen erzählt. Diese hat er später in dem Buch „Ein Brasilianer in Berlin“ veröffentlicht. Eine dieser vergnüglichen „Innenansichten eines Außenseiters“ hatte Astrid Hagen-Wehrhahn ausgewählt. Ribeiro schreibt auf amüsante Weise sowohl über widerlegte als auch bestätigte Klischees von dem Bild, das Brasilianer von den Deutschen haben.
Lygia Fagundes Telles, 1923 in Sao Paulo geboren, ist eine politisch engagierte Schriftstellerin und versteht sich als Stimme der Dritten Welt. Bekannt wurde sie vor allem durch ihren Roman „As Meninas“, in der sie die Geschichte dreier Frauen in den 70er Jahren zur Zeit der Militärdiktatur in Brasilien beschreibt. Aber auch durch ihre zahlreichen Kurzgeschichten erlangte Telles internationales Renommee. Fred Rautenberg hatte sich aus ihrem Band „Die Struktur der Seifenblase“ die Kurzgeschichte „Der Zeuge“ ausgesucht, die durch ihr bizarres Ende verblüffte.
Ana, zeit ihres Lebens appetitlos, träumt plötzlich nur noch von Essen. Diese seltsamen Träume weiß die findige Familie bald in profitable Bahnen zu lenken. Ana wird Köchin. Dieser Erzählstoff stammt von der Autorin Cintia Moscovich und wurde unter dem Titel „Hunger und Esslust“ zusammen mit elf weiteren Kurzgeschichten brasilianischer Autorinnen in der Anthologie „Wenn der Hahn kräht“ veröffentlicht. Peggy Geßner, Lehrerin am Martin-Pollich-Gymnasium, las die heitere Geschichte vor.
Ebenfalls dem heiteren Genre entspringt „Brasilianischer Piranha-Grill“ von Zé do Rock, die Fred Rautenberg vorstellte. Zé do Rock bezeichnet sich selbst als Berufsbrasilianer und hat sich als Autor, Kabarettist und Filmemacher einen Namen gemacht hat. Heute lebt der 57-Jährige in München und beherrscht nicht nur die deutsche Sprache vortrefflich, sondern auch den spielerischen Umgang mit ihr, wie er im Rezept und der Zutatenbeschaffung für brasilianische Piranhas unter Beweis stellt.
Lotterie und Müll
Wer sich mit brasilianischen Schriftstellern beschäftigt, kommt wohl an seinem berühmtesten Vertreter, Paulo Coelho, nicht vorbei. Coelho wurde 1947 in Rio de Janeiro geboren und gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Lebensweisheiten und philosophische Gedanken hat er in kleine Geschichten gepackt, wie auch in „Das Lotterielos“, die Janette Fraas den Zuhörern im Café Art präsentierte.
Den Abschluss des Lesenachmittags gestalteten Rautenberg, Fraas und Geßner gemeinsam. Sie hatten sich das amüsante Stück „Müll“ von Luis Fernando Veríssimo ausgesucht. Darin durchforsten zwei Nachbarn die Müllreste des anderen und ziehen dabei Rückschlüsse auf deren Lebensweise und Lebensumstände.
Am 1. Dezember gibt es die letzte Ausgabe von „Mellrichstadt liest“ in diesem Jahr. Die Veranstaltung steht unter dem Motto „Sieh Bethlehems Stern scheint überall – Weihnachten in aller Welt“. Beginn ist um 16 Uhr.