Die Tugenden und Untugenden der Meininger Handlungsträger sind erfreulicherweise nicht so glasklar definiert wie der Schillersche Duktus es vermuten lässt. Zwar werden die Persönlichkeiten, wie vom Text vorgegeben, von individuellem Mut angetrieben, von persönlicher Feigheit, kollektivem Zaudern, Hass, furchterregender Böswilligkeit oder Machtgeilheit. Aber von eidgenössischer Manneskraft im Sinne des schweizerischen Gründungsmythos bleibt nicht mehr viel übrig in Matthias Brenners Inszenierung. Personen, die sich bei Schiller noch ernst durch die Landschaft bewegen, erhalten eine komische Note, werden fast zu Karikaturen ihrer selbst, weil sich zwischen eigenem Anspruch und (etwas banalerer) Wirklichkeit Abgründe auftun, die einer Gebirgsschlucht im Kanton Uri alle Ehre machen.
Zu viel des Guten
Jungritter von Rudenz (Benjamin Krüger) ist so ein Fall, wenn er strampelnd aber gerüstet in der Luft hängt und ihn Oheim von Attinghausen (Max Reimann) das Pferd – ein Turngerät – unterm Hintern wegzieht. Dabei belehrt der Altvordere den Jungrecken übers wahrhaftige Schweizer Rittertum, das der Alte vom Aussterben bedroht sieht (später nimmt die forsche Freifrau Berta - Felicitas Breest – ihren Ritter Huckepack). Das sind hochsymbolische Akte, kommen aber der Wahrheit näher als fromme Sprüche. Die beiden Söldner (Renatus Scheibe, Matthias Herold) sind auch solche Typen, die nicht recht wissen, wo's langgeht. Einmal kriechen sie ihrem Dienstherrn in den Hintern, aber, wenn er es zu toll treibt, dann keimt so etwas wie Restverstand auf.
Es wären noch ein paar Figuren zu nennen, deren karikaturhafte Zeichnung manchmal gelungen ist und manchmal Rätsel aufgibt. Was soll ein ewig kettenrauchender Pfaffe (Peer Roggendorf), mit der Bierflasche in der Hand? Und dann Reichsvogt Gessler. Ein Grenzfall, an dem sich die Geister scheiden können. Roman Weltzien spielt sich als Gessler die Seele aus dem Leib, gibt sich in einem Augenblick beherrscht, im anderen machtgeil und zynisch und im dritten hysterisch und infantil.
In solchen Momenten glaubt der Regisseur, dem angstzerfressenen Gessler vom Polizeihubschrauber aus eine Strickleiter herunterlassen zu müssen, um den Zustand des Psychopathen zu unterstreichen. Das ist entschieden zu viel des Guten. Überhaupt steht die Präsenz von infernalischem Hubschrauberlärm und eines Bauschildes „Hier entsteht eine Haftanstalt für Ihre Sicherheit“ in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Gegenwartsbezug der Interpretation. Natürlich kann man bestimmte Verhaltensweisen der Figuren auch im Hier und Jetzt verorten - nicht nur dort, wo heute Bürgerkrieg herrscht. In der Schlussszene stehen – hochsymbolisch, wie gesagt! – Tell & Familie und der einst sensible junge Arnold von Melchtal (Florian Beyer) im grauen Bänkeranzug im Scheinwerferlicht, sonst niemand. Was uns sagen soll: „Seht her, was die Schweiz zukünftig wirklich im Innersten zusammenhält.“
Ansonsten ist es um die gelebte Solidarität der Geknechteten schlecht bestellt. Die Alten (Albert R. Pasch, Reimann) werden gerade noch so geachtet, die mittelalten Landleute, wie Tell und Gattin (Harald Schröpfer, Evelyn Fuchs), Stauffacher und Frau (Michael Jeske, Marianne Thielmann), Fürst (Hans-Joachim Rodewald), Baumgarten (Reinhard Bock) nehmen sich und das Leben sehr ernst und bei den Jungen hegt man noch gewisse Zweifel über die Dauer der Integrität. Die Landleute feiern zwar gemeinsam das Ende des Tyrannen, aber so eine richtig demokratische Runde-Tisch-Stimmung kommt da nicht auf. Da sei Schillers Skepsis vor („Wir haben‘s aufgebaut, wir wissen‘s zu zerstören.“) und der Kulturpessimismus des Regisseurs.
Schröpfers schwere Aufgabe
Die Aufrechten – das sind also die gestandenen Mannsbilder. Allen voran der Tell. Der entzieht sich zwar seit Jahrhunderten dem Kollektiv, ist aber dennoch da, wenn man ihn braucht. Dummerweise haben er und seine Altersgenossen weder bei Schiller noch bei Brenner etwas Komisches an sich. Eine schwere Aufgabe für Harald Schröpfer, aus einer beängstigend integren Person eine Figur mit Schattierungen zu gestalten! Er tut‘s mit Bravour und trotzdem bleibt der Tell furchtbar geradlinig. Verständlich vielleicht aus der ungeheuerlichen Beschädigung seines Familienidylls. Nur am Anfang, als der Held als Rauschebartträger im goldenen Bilderrahmen vor dem Vierwaldstätter-See-Prospekt der Gebrüder Brückner sitzt und man nicht so recht weiß, ob man ihn als Alm-Öhi oder Taliban betrachten soll, nur am Anfang gerät die Seriosität Tells in Gefahr.
Überhaupt ist das Bühnenbild von Helge Ullmann und Nicolaus-Johannes Heyse (beide auch Kostüme) voller schöner Überraschungen. Es wechselt die Zeiten und Perspektiven – untermalt von Kompositionen von Sebastian Undisz – und hält sich damit in einer Zwischenzeit zwischen Legende und richtigem Leben. Das ist auch die Welt, in der sich Brenners Interpretation am besten verorten lässt.
Ein rechtes Stück für ein Publikum also, das mit einem Hauch von Ironie die Rätsel Rätsel sein lässt und Herz und Sinne an den schönen visuellen und ideellen Kontrasten erfreut und am Tellschen Prinzip, dass der Starke am mächtigsten allein ist – jedenfalls, so lange es ihm nicht furchtbar schlecht geht.
Nächste Vorstellungen: 19. September, 3. Oktober, jeweils 19:30 Uhr, 7. Oktober, 18 Uhr, 11. Oktober, 19 Uhr, 14. und 23. Oktober, jeweils 19:30 Uhr, 25. Oktober, 15 Uhr. Karten-Tel.: (03693) 451 222 oder 451 137.