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Welche Miene, welche Blicke!

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Welche Miene, welche Blicke!

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    meiningen Es wallet und siedet und brauset und zischt an diesem Abend im Großen Haus des Meininger Theaters. Nein, Peter Grimes kämpft nicht mit den Gewalten des Meeres. Eberhard Esche steht alleine im weißen Raum und spricht - ganz einfach - Gedichte.

    Die Bühne beginnt zu leben (oder gar zu beben), wenn der Mime auf und ab geht zwischen erhöhtem Fauteuil, Marke Louis Quatorze, und dem postantiken, höhenverstell-, kipp-, schwenk- und kurbelbaren Lesepult in Eiche altdeutsch. Wenn der Meister an den Bühnenrand tritt, um einen markanten Satz zu formulieren, da gestikulieren die Hände, da rollen die Augen, da zucken die Mundwinkel und die Stimme oszilliert zwischen Entsetzen und Unverstand. ,Nein, nicht länger / Kann ichs lassen; will ihn fassen. / Das ist Tücke! / Ach! nun wird mir immer bänger! / Welche Miene! welche Blicke!" Wehe. Wehe, Zauberlehrling. - Esche spricht Balladen und Gedichte von Goethe, Schiller, Heine, Uhland und Fontane. Zirka vier Dutzend, mit Pause - ein von ihm unter dem Titel "Der Zauberlehrling" zusammengefügtes Programm, das in der traditionellen Reihe des Literarischen Abends am Deutschen Theater Berlin im Oktober 2001 Premiere hatte. Nun steht er für einen Abend auf den Brettern, die für ihn die erste Welt bedeuteten, damals in den Fünfzigern, am Anfang seiner Theater- und Filmkarriere in der DDR.

    Heute abend kommentiert er den Anfang merkwürdig gerührt - ähnlich seiner Laudatio zur 170-Jahr-Feier des Theaters. Dieser Anfang, sagt er, sei ihm "eigentlich lieber" als das Ende, weil seine langjährige künstlerische Heimat, das Deutsche Theater, "so kaputt gegangen" sei. Aber das steht als Zwischenton im Raum und nicht als Leitmotiv. Das Leitmotiv könnte einem Brief Goethes an Eckermann entnommen sein, in dem er beklagt, die Poeten schrieben alle als wären sie krank. Seine - Goethes - Poesie hingegen wolle den Menschen mit Mut ausrüsten, die Kämpfe des Lebens zu bestehen.

    Warum nur aber hat sich das im Lauf der Jahrhunderte so furchbar schlecht in Alltagspraxis umsetzen lassen, diese Lebensmumm fördernde Gebrauchslyrik, von den Weimarer Großmeistern über Morgenstern, Ringelnatz, Tucholsky, Kästner bis zu Robert Gernhardt? Wie hätte sich unsere Geschichte verändert, wenn wir zur rechten Zeit am rechten Ort der richtigen Person das rechte Gedicht um die Ohren geschleudert hätten? Mit Inbrunst. Mit wohl gesetzten Pausen. Mit wechselvoller Modulation. Mit brüchiger Stimme. Mit Liebreiz. Mit Lallen. "Wer wagt es - Rittersmann oder Knapp?" Im Zweifelsfall der Knapp. Welch Wahrheiten, welche Weisheiten, welcher Witz in den Gedichten allein schon der Klassiker! Und Esche setzt sie zusammen, als seien sie Perlen an einer Kette, manchmal ohne Zwischenraum.

    Ach, Oberstudienrat Müller (Name natürlich geändert), du Narr, was hast du mit unserer Lyrik gemacht? Eintragen mussten wir sie in ein Ringbuch, auf dem mit Schönschrift geschrieben stand: "Deutsche Gedichte". Lehrplangemäß handelten wir sie ab, lernten sie mit Bangen und Unlust auswendig, legten sie zur Seite, auf dass sie ein halbes Leben lang verstaubten. Und nun hören wir von einem alten Mimen, wie lebendig sie sind, wenn man sich nicht sklavisch an Daktylus, Spondeus und Trochäus klammert oder das Memorieren nicht als Primärtugend begreift, sondern als Mittel zu höherem Zwecke.

    Wir ziehen den Ringordner aus der hintersten Kellerecke, durchforsten das Bücherregal nach Lyrik, finden einen dtv-Schmöker "Goethe - Gedichte", finden den Heine nicht, dafür "Bodenstedts Album deutscher Kunst und Dichtung" von 1892, das uns die Oma aus Sachsen vererbt hat, und lesen "Des Sänger Fluch" mit anderen Augen. Schließlich eilen wir in die Buchhandlung und greifen uns hundert Gedichte von Heinrich Heine in einem schönen Büchlein des Aufbau Verlags. Es wallet und siedet und brauset und zischt noch immer wie am Abend davor und wir erinnern uns an Eberhard Esches erste Rückkehr nach Meiningen in Georgie's Off, wo im Publikum noch das Regiment der Veteranen herrschte. Wie sich die Zeiten ändern! Heute sitzen 400 Leute im Theater, bunte und graue, und es geht kein Peter Grimes in den Fluten unter, sondern ein alter Mime über die Bühne und spricht einfach Gedichte. Und die Leute hoffen, dass dieser Abend den Tag überdauert. So wie Jewgenij Jewtuschenkos Meininger Dichterlesung vor ein paar Jahren noch heute in der Seele klingt.

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