Manch Vogel-Interessierter ist in Sorge. Des frühen Vogels wegen. Nahe Mittelstreu schlägt die Kirchturmuhr an diesem Sonntagmorgen nämlich bereits sechs Uhr. "Wären wir nach der Vogeluhr gegangen, hätten wir früher losgehen müssen, oder?", fragt eine Teilnehmerin.
Daniel Scheffler, Ranger am Naturpark Rhön, schmunzelt: "Wer das komplette Artenspektrum haben will, muss natürlich deutlich vor Sonnenaufgang raus. Aber wann hätten wir dann aufgehört?" Der Mauersegler beispielsweise fange erst in der Mittagshitze richtig das Singen an.

Rhön-Ranger Scheffler ist zu Recht gelassen. Dreieinhalb Stunden wird er an diesem Sonntagmorgen mit acht Teilnehmern durch das Naturschutzgebiet Trockenstandorte bei Mittelstreu wandern. In puncto Vogelstimmen bleibt am Ende kein Wunsch offen, so eindrucksvoll und vielfältig ist das Zirpen und Zwitschern.
Herauszuhören sind an diesem Morgen unter vielen anderen das Sommergoldhähnchen, laut Scheffler der kleinste Vogel Europas, die Nachtigall, eine wahre Meistersängerin, und der Zaunkönig, der Rhön-Ranger nennt den kleinen, aber sehr lauten Piepmatz auch liebevoll den "Hooligan". Am spannendsten aber waren diese fünf Vogel-Begegnungen:
1. Der Baumpieper – Fallschirmspringer mit melodischer Stimme

Besonders, weil: Seinen Singflug zu beobachten ist wunderschön. Der Baumpieper markiert damit sein Revier und imponiert den Weibchen. Er steigt von einer hohen Baumspitze zunächst stumm auf und startet am höchsten Punkt, kurz vor dem Abstieg, mit seinem Gesang. Dabei lässt er sich mit ausgebreiteten Flügeln und gespreiztem Schwanz wie ein Fallschirm fallen, um am Ende wieder auf der Ursprungs-Baumspitze zu landen.
So klingt sein Gesang: Hell und heiter. Der Gesang des Baumpiepers ist eine aneinandergereihte Folge von Lauten. Er beginnt mit einem abfallenden zi-zi-zi, das in pfeifende wiswiswis-Laute mit einem kleinen Überschlag am Ende übergeht und mit rau gezogenen zjia zjia zjia-Lauten endet.
So sieht er aus: Mit seinem Aussehen kann er leider nicht punkten. Äußerlich macht der sperlingsgroße, überwiegend bräunliche Baumpieper nicht allzu viel her.
So lebt er: Er brütet in hohen Grasbüscheln, ernährt sich von Insekten und überwintert als Weitstreckenzieher in West- und Ostafrika.
So gefährdet ist er: Früher sehr häufig, steht der Baumpieper inzwischen auf der Vorwarnliste.

2. Der Gartenrotschwanz - Farbenfroher Indikator für Artenvielfalt

Besonders weil: Wo der Gartenrotschwanz vorkommt, ist die Natur vielfältig. In Deutschland ist er ein Indikator für Artenvielfalt. Wo er verschwindet, gehen auch viele andere Arten verloren.
So klingt sein Gesang: Wehmütig. Die Lock- und Erregungsrufe sind ein weich pfeifendes, etwas ansteigendes hüit. Ihnen folgt oft ein schnalzendes tick-tick-tick.
So sieht er aus: Die roten Schwanzfedern sind sein typisches Kennzeichen. Auffallend auch die orange-rötliche Brust mit weißem Lätzchen. Oft sieht man ihn auf einer Ansitzwarte auffällig mit seinem Schwanz zittern.
So verhält er sich: Als Höhlenbrüter sind Gartenrotschwänze auf alten Baumbestand mit Astlöchern und Baumhöhlen angewiesen. Dass viele Waldkiefern im Naturschutzgebiet Mittelstreu massiv mit der Trockenheit kämpfen, gefällt ihm. Die abgestorbenen Kiefern sind tolle Habitatbäume. Der Gartenrotschwanz findet darin Höhlen und Insekten.
So gefährdet ist er: In Bayern ist der Gartenrotschwanz zwischen 1975 und 1999 um circa 50 Prozent zurückgegangen
3. Die Turteltaube - Bedrohte Glücksbotin, die es interessanterweise nach Mittelstreu zieht

Besonders, weil: Die Turteltaube gilt als Glücksbote und Hoffnungsbringer sowie als Symbol großer, andauernder Liebe. Das kosende Verhalten dieser Tauben erinnert an den Umgang von Verliebten miteinander. Ihre Lebensbedingungen sind allerdings wenig romantisch: Seit 1980 sind fast 90 Prozent ihrer Bestände in Deutschland verloren gegangen. Rhön-Ranger Daniel Scheffler bezeichnet die Turteltaube deshalb als "echtes Sorgenkind". Doch das Offenland im Naturschutzgebiet Mittelstreu scheint den Turteltauben zuzusagen. Mindestens fünf Reviere habe er bei einer Wanderung dort kürzlich entdeckt, erzählt der Ranger. "Das ist sehr erfreulich."
So klingt ihr Gesang: Ihr Ruf, ein schnurrend tiefes Gurren, klingt in etwa wie turr turr.
So sieht sie aus: Ihr farbenfrohes Gefieder mutet nahezu exotisch an. Auffallend ist der deutlich gestufte, dunkle Schwanz mit weißem Ende.
So verhält sie sich: Turteltauben bleiben sich über die gesamte Brutsaison treu. Sie sind die einzigen Langstreckenzieher unter den Taubenarten.
So gefährdet ist sie: Als Rote-Liste-1-Art ist die Turteltaube vom Aussterben bedroht. In Großbritannien ist sie mit einem Bestandsrückgang von 98 Prozent die am stärksten bedrohte Vogelart und nahezu ausgestorben. Grund für den Rückgang sind laut Scheffler die Intensivierung der Landwirtschaft und die starke Bejagung des Langstreckenziehers als Speisevogel auf seinem Weg nach Afrika.
4. Der Neuntöter - Leise schwatzender Vorratshalter, aber kein Serienkiller

Besonders, weil: Sein Name erinnert an einen Horrorfilm. Tatsächlich ist der Singvogel alles andere als ein Serienkiller und auf Heiden und Wiesen zu Hause. Seinen brutalen Namen trägt er, weil er gerne Vorräte anlegt: Wenn er seine Beutetiere, vor allem größere Insekten, getötet hat, spießt er sie auf Dornen auf und lagert sie dort so lange, bis er sie frisst. Früher hat man irrtümlicherweise angenommen, dass er immer erst neun Tiere aufspießt, bevor er wieder eines verzehrt.
So klingt sein Gesang: Wie dschääh oder teck – ein eher leiser schwatzender Gesang.
So sieht er aus: Das Männchen des Neuntöters ist durch seine schwarze Augenbinde, den hellen bis rosafarbenen Bauch und den grauen Oberkopf unverkennbar. Das Weibchen ist mit dem mehrheitlich braun gefärbten Federkleid beim Brüten perfekt getarnt.
So verhält er sich: Sein Jagdverhalten ist auffällig: Ähnlich wie ein Greifvogel stürzt er sich von einer Sitzwarte aus blitzschnell zu Boden, um sein Beutetier mit dem leicht hakenförmig gebogenen Schnabel zu packen. Als Überwinterer in Südafrika zählt er zu den Singvögeln mit dem längsten Zugweg.
So gefährdet ist er: Vor 30 Jahren war der Neuntöter in Deutschland selten geworden. Heute hat sich der Bestand der Vögel erholt, weil sich Naturschützer für den Erhalt von Wiesen eingesetzt und neue Hecken gepflanzt haben. Inzwischen brüten in Deutschland wieder mehr als 100.000 Neuntöter-Paare.

5. Die Heidelerche - der Vogel aus Romeo und Julia mit wunderschönem Gesang

Besonders, weil: Neben der Nachtigall ist sie der Vogel aus Shakespeares Romeo und Julia. In der bekannten Balkon-Szene leitet der Lerchen-Gesang die Trennung der Liebenden ein. Julia versucht Romeos Weggehen aufzuschieben mit: "Es war die Nachtigall, nicht die Lerche." Im Hier und Jetzt ist die Heidelerche für die Region besonders, da ihr großer Brutbestand einer der Gründe war, weshalb das Vogelschutzgebiet in Mittelstreu ausgewiesen wurde.
So klingt ihr Gesang: Der Heidelerchen-Singflug ist wunderschön. Sie singt in großer Höhe, oft bei Sonnenaufgang. Ornithologisch gesehen hätte sich Shakespeares Romeo so oder so aber lieber nicht auf den Vogelgesang verlassen sollen. Denn die Tageszeit lässt sich nicht eindeutig an Lerche und Nachtigall festmachen. Die Liebenden könnten de facto beide Vogelarten gehört haben. In lauen, sternenklaren Vollmond-Nächten, singt nämlich auch die Heidelerche. Und zu Beginn der Brutzeit singt die Nachtigall trotz ihres Namens auch tagsüber gerne.
So sieht sie aus: Sie ist sperlingsgroß, kurzschwänzig und in verschiedenen Brauntönen gemustert
So verhält sie sich: Sie brütet auf dem Boden. Überall in schütter bewachsenen Flächen könnte ihr Nest sein. Da sie sehr störungsempfindlich ist, ist es wichtig im Naturschutzgebiet auf den Wegen zu bleiben, so Ranger Scheffler.
So gefährdet ist sie: Die Heidelerche, eine von drei heimischen Lerchenarten, ist stark gefährdet. Sie ist eine "Rote-Liste-Art". In Mittelstreu allerdings gibt es zahlreiche Brutpaare.
Die nächste Wanderung mit Rhön-Ranger Daniel Scheffler dreht sich schwerpunktmäßig um den Vogel des Jahres 2023, das Braunkehlchen. Sie findet am Sonntag, 4. Juni, morgens um 6 Uhr statt. Treffpunkt ist der Wanderparkplatz am Basaltsee bei Ginolfs.
Das Naturschutzgebiet Mittelstreu und Naturpark-Ranger Daniel SchefflerDas Naturschutzgebiet "Trockenstandtorte bei Mittelstreu": Das circa 200 Hektar große Gebiet "Trockenstandorte bei Mittelstreu" war von den 60ern bis 2006 Bundeswehrstandort. Infolgedessen ist die Tierwelt dort einzigartig. "Der Übungsbetrieb der Bundeswehr war für die Tiere eine sehr gut kalkulierbare, feste Größe", so Naturpark-Ranger Daniel Scheffler. Inzwischen wurde das Gebiet der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) übereignet, die gemeinsam mit dem Bundesfort und Akteuren vor Ort Natur- und Artenschutzmaßnahmen umsetzt.Naturpark-Ranger Daniel Scheffler: Der 44-Jährige wurde 2020 der erste bayerische Naturpark-Ranger in der Rhön. Inzwischen hat er drei weitere Kolleginnen und Kollegen. Bevor Scheffler hauptberuflich zum Naturschutz wechselte, absolvierte er eine Ausbildung zum Koch und arbeitete 20 Jahre in diesem Beruf. Bekannt war der Urspringer schon lange vor seiner Ranger-Tätigkeit durch seine Aktivitäten als Vorsitzender der Kreisgruppe Rhön-Grabfeld des Landesbundes für Vogelschutz.Quelle: ir