Es ist diese besondere Mischung aus persönlicher Atmosphäre, klassisch-gehobenem Ambiente und der Liebe zur Musik, die die Kulturgemeinde Castell auszeichnet. Diese Liebe hat vor langer Zeit begonnen, Ende des vorletzten Jahrhunderts um genau zu sein. 1899 wurde Anna Agnes, die spätere Fürstin zu Castell-Castell geboren. „Das Leben unserer Mutter war durchdrungen von der Liebe zur Musik und geprägt vom Musizieren“, schreibt ihr Sohn Albrecht, der heutige Fürst, in einer Festschrift anlässlich des 60. Jahrestages der Kulturgemeinde – „dankbares Erinnern“ ist das Kapitel überschrieben. Anna Agnes war es, die die Kulturgemeinschaft Castell, wie sie zunächst hieß, gründete.
Schon als kleines Mädchen liebte sie es, mit ihren drei Geschwistern Philipp, Elisabeth und Johanna Theater zu spielen und zu singen, erzählt ihr Neffe Jesko Graf zu Dohna, Archivar des Hauses Castell. Sie zeichnete, dichtete und lernte von ihrer Mutter, Klavier zu spielen. Als Jugendliche hatte die spätere Fürstin, die als Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich im oberhessischen Lich aufwuchs, Geigenunterricht bei Gösta Andreasson, der damals an der Darmstädter Akademie für Tonkunst unterrichtete und 24 Jahre lang 2. Geiger beim weltberühmten Busch-Quartett war. Auch Anna Agnes hatte Talent. Es sollte jedoch einige Jahre dauern, bis sie sich dem wieder voll widmen konnte.
„Das Leben unserer Mutter war durchdrungen von der Liebe zur Musik.“
Albrecht Fürst zu Castell-Castell, Sohn der Kulturgemeinde-Gründerin
Aus Darmstadt, damals eine der führenden Kulturstädte in Deutschland, brachte sie ihre Hochzeit mit Fürst Carl zu Castell-Castell 1923 in den beschaulichen Weinort am Fuß des Schwanbergs. Anna Agnes wurde Hausfrau im Schloss Castell und bekam schon ein Jahr später ihr erstes Kind, Erbgraf Philipp. Ihm folgten innerhalb von zehn Jahren fünf weitere Geschwister. Als die Eltern ihres Mannes starben, übernahm sie zudem die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister. So musste sie sich mit 26 Jahren plötzlich um eine Großfamilie kümmern.
Für Konzertbesuche, Theater und Ausstellungen blieb kaum noch Zeit. Doch los ließ sie die Musik nie. Wenn Zeit war, holte sie die Geige hervor oder setzte sich ans Klavier. Ihren „Hunger nach anspruchsvollen Aufführungen guter Musik“, wie Jesko Graf zu Dohna in der Festschrift zum 60-jährigen Jubiläum schreibt, stillte sie durch Besuche des Würzburger Mozartfestes, Konzerte auf der Hallburg und bei der Ansbacher Bachwoche.
Aber es musste doch auch möglich sein, die Musik nicht nur auf tollen – und teuren – Konzerten in den Städten zu genießen, sondern auch zu Hause im kleineren Kreis – und so auch der Bevölkerung nach den Kriegsjahren wieder kulturelle Angebote zugänglich zu machen, dachte sie sich. Die Idee für eine eigene Casteller Kulturgemeinde war geboren. Damit das Ganze nicht zu teuer würde, sollten vor allem junge Musiker engagiert werden, die so zudem die Chance für einen Auftritt vor Publikum bekamen.
Das Konzept steht bis heute, bestätigt Ulrike von Schultzendorff, die die Leitung der Kulturgemeinde vor 13 Jahren zusammen mit ihrem Mann Hans-Adam von Schultzendorff übernahm – er als Vorsitzender, sie als „Mädchen für alles“. Sagt's und lacht. Das Mädchen für alles tut viel, um den Gedanken der Gründerin fortzuführen. Flyer verteilen, Plakate hängen und Stühle schleppen gehören heute ebenso dazu, wie Kontakt zur klassischen Konzertszene, aber auch zu Autoren, Schriftstellern und Künstlern zu halten.
Was 1949 mit einem Hauskonzert von Pianist Günter Raphael im Salon des Schlosses Castell begann, hat sich im Lauf der Jahre zu einem festen Kulturprogramm gemausert. Traf man sich zu Beginn in loser Folge zu Konzerten im Salon, ab Frühjahr 1951 auch im neu gebauten Bibliothekssaal im Westflügel des Casteller Schlosses, musste man aus Platzgründen in den 1970er Jahren in den Schlosshof und die Reithalle ausweichen. Heute finden die Konzerte in der St. Johannes-Kirche statt – jährlich auf zwei Stück beschränkt, dazu gibt es seit zehn Jahren im Sommer eine Theateraufführung im Schlossgarten in Zusammenarbeit mit dem „Fränkischen Theatersommer“ sowie eine Autorenlesung. In diesem Jahr gab es erstmals auch eine Ausstellung im Rathaus.
„Alle Bereiche der Kunst sollen aufgegriffen werden“, sagt Ulrike von Schultzendorff, mehr wäre organisatorisch nicht drin – immerhin ist sie praktische Ärztin und Mutter von vier erwachsenen Kindern. Ein aktives Kulturleben in einer 800-Einwohner-Gemeinde aufrecht zu erhalten, braucht Zeit, Geduld, Enthusiasmus und manchmal auch „ein bisschen Überredungskunst“, wie Ulrike von Schultzendorff sagt. Aber ans Aufhören denkt sie noch lang nicht.
Sogar neue Pläne „spuken“ noch in ihrem Kopf herum. Sie könnte sich zum Beispiel Filmtage vorstellen, vielleicht zusammen mit einem Picknick im Park. „Die Ideen kommen überall“, erzählt sie. „Beim Essen kochen, Autofahren“ oder auf der Buchmesse, die sie regelmäßig besucht. Im Oktober kam Hanns-Joseph Ortheil nach Castell, um aus seinem Buch „Die Erfindung des Lebens“ zu lesen. Trotz bekannter Namen sind gerade die Autorenlesungen meist ein Defizitgeschäft, gibt von Schultzendorff zu. „Wir bräuchten mehr Leute, die Kultur unterstützen.“
„„Zugpferde braucht es, aber die Mischung macht's.“
Hans-Adam von Schultzendorff, Vorsitzender der Kulturgemeinde
Aktuell hat der gemeinnützige Verein, der Anfang der 1960er Jahre gegründet wurde, sieben feste Mitglieder und rund 90 Mitglieder im Freundes- und Förderkreis. Sie zahlen einen Jahresbeitrag von exakt 10,23 Euro – vorher waren es 20 Mark. „Wir haben das genau umgerechnet“, sagt Vorsitzender Hans-Adam von Schultzendorff. Große Stütze ist neben dem Fürstenhaus die Castell-Bank, die die Kulturgemeinde durch das Kaufen von Kartenkontingenten unterstützt. Aber auch den vielen treuen Helfern, unter anderem aus dem Heimatverein, sind die von Schultzendorffs dankbar: „Ohne sie ging es nicht.“
Und der Aufwand lohnt sich. Neben jungen unbekannten Künstlern, die vor allem durch die gemeinnützige Organisation „Live Music Now“, die Violinist Yehudi Menuhin 1977 in England gründete, nach Castell kommen, geben auch die großen, etwa der Windsbacher Knabenchor, regelmäßig Konzerte. Die Aufführung von Händels „Messias“ unter Leitung von Christian Kabitz im vergangenen Jahr gehörte zu den Höhepunkten. „Zugpferde braucht es, aber die Mischung macht's“, wissen von Schultzendorffs.
Und das wusste auch die Gründerin Fürstin Anna Agnes, die als aufgeschlossene, fröhliche und unkomplizierte Gastgeberin galt. War im Ort kein Platz, wurden die Musiker eben kurzerhand im Schloss einquartiert. Eine große Gage konnte und kann der Verein nicht zahlen, aber es waren vor allem diese Abende, die noch heute oft in ein gemeinsames Abendessen von Musikern und Konzertbesuchern münden, „die Obhut und Fürsorge“ der Fürstenfamilie, die die Konzerte in Castell einmalig machen. Kammermusiker Hermann Harrassowitz, erinnert sich noch heute an sein erstes Konzert am 30. Oktober 1957 und die Begegnung mit der „charmanten jungen Fürstin“, die ihn und seinen Begleiter in einem „schmucken weißen Cabrio am Bahnhof in Kitzingen abholte“. Bis zu ihrem Tod 1987 begleitete Fürstin Anna Agnes die Kulturgemeinde „mit viel Liebe und Phantasie“, schreibt Harrassowitz. Und sie hat viel erreicht mit dieser Liebe.
60 Jahre Kulturgemeinde
Die Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags der Kulturgemeinde ist voll mit Bildern und Erinnerungen vieler Wegbegleiter. Albrecht Fürst zu Castell-Castell, Archivar Jesko Graf zu Dohna, viele Musiker, Gäste sowie die ehemalige Vorsitzende Elisabeth Wolf (1983 bis 1997) und ihre Nachfolgerin Ulrike von Schultzendorff (ab 1997) sowie Dekanatskantor Rainer Gaar erinnern sich. Flyer und alte Plakate, zum Teil aus den Anfängen der Kulturgemeinde, geben einen Überblick über die 60-jährigen Aktivitäten.
Die Festschrift kann per E-Mail kostenlos unter archiv@castell.de angefordert werden.
Die Kulturgemeinde Castell arbeitet neben ihren eigenen Veranstaltungen seit 25 Jahren eng mit dem Dekanatskantor des Dekanats Castell, Reiner Gaar, zusammen. Er organisiert jedes Jahr die Veranstaltungsreihe „Casteller Orgelwoche“ im Juli und die „Casteller Musiktage“ im Oktober.
Die 1977 von Yehudi Menuhin gegründete Organisation „Live Music Now“ soll junge, talentierte Künstler unterstützen und ihnen die Möglichkeit zum Auftritt bieten. Die Mitglieder organisieren eintrittsfreie Konzerte vor allem in sozialen Einrichtungen, wie Altenheimen oder Gefängnissen. In Deutschland ist die Organisation in 16 Städten aktiv (www.livemusicnow.de).
ONLINE-TIPP
Mehr Informationen auch auf der nagelneuen Homepage: www.castell-kulturgemeinde.de