Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten
Landkreis Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten

KREIS SCHWEINFURT: Atomtests im Kalten Krieg: Sülze und Trockenmilch sollten gegen Strahlung helfen

KREIS SCHWEINFURT

Atomtests im Kalten Krieg: Sülze und Trockenmilch sollten gegen Strahlung helfen

    • |
    • |
    Solche Flugblätter zeigten im Jahr 1962, wie man mit Alaun-Sülze radioaktiv verseuchtes Wasser reinigen kann.
    Solche Flugblätter zeigten im Jahr 1962, wie man mit Alaun-Sülze radioaktiv verseuchtes Wasser reinigen kann. Foto: Foto: Stadtarchiv

    Man riecht sie nicht, kann sie nicht fühlen oder schmecken: die radioaktive Strahlung. Dabei ist sie sehr gefährlich. Radioaktive Partikel, die in den menschlichen Körper gelangen, können dort Krebs auslösen. Zwischen den Jahren 1945 und 1991 wurden weltweit rund 420 oberirdische und über 1000 unterirdische Kernwaffentests durchgeführt. Mit dramatischen Folgen für die Bevölkerung.

    Der Schwerpunkt der Versuche war zu Zeiten des Kalten Kriegs in den Jahren 1961 und 1962. Durch den weltweiten „Fallout“, das Niedergehen der radioaktiven Spaltprodukte aus der Atmosphäre auf die Erdoberfläche, kam es zu einer deutlich erhöhten Belastung des Menschen durch die Aufnahme von kontaminierten Lebensmitteln und Staub. In einer Skala erreichte die Cäsium-Belastung der Bevölkerung im Jahr 1963 in Deutschland einen Wert von rund 10,5. Zum Vergleich: Nach dem verheerenden Reaktorunfall im ukrainischen Tschernobyl im April 1986 erreichte diese Belastung auf der Skala maximal „nur“ den Wert 8,1.

    Für den Ernstfall einer radioaktiven Verseuchung von Oberflächenwasser in Zisternen hatte das Bayerische Innenministerium im Jahr 1962 sogar Merkblätter vorbereitet, von denen sich einer im Stadtarchiv erhalten hat. Das Landratsamt Gerolzhofen hatte diese Merkblätter unter anderem für die Bewohner der Bimbachsmühle bei Hundelshausen vorgesehen, wo weder ein Tiefbrunnen noch eine Fernwasserleitung, sondern nur eine Zisterne in Betrieb war.

    Mit Sülze gegen Strahlen

    Auf den Merkblättern wird mit Hilfe von Piktogrammen gezeigt, wie man in elf Arbeitsschritten radioaktives Wasser für den Hausgebrauch wieder trinkbar machen kann – mit einer „Sülze“ aus Alaun (Kaliumaluminiumsulfat), Salmiakgeist und Wasser.

    Und so geht das skurril wirkende Rezept: Ein halbes Liter Wasser in ein Einmachglas geben und darin zwei Teelöffel Alaun („gibt es in Apotheke und Drogerie“) durch ständiges Umrühren auflösen. Dann etwa zwei Esslöffel Salmiakgeist dazugeben. Dies soll zur Folge haben, dass sich im Glas eine dünnflüssige Sülze bildet. Diese Sülze soll dann in einen mit Melitta-Papier ausgelegten Kaffeefilter geschüttet und mit einer Tasse Wasser nachgespült werden. Das durchgetropfte Wasser wird weggeschüttet, während die im Filterpapier zurückgebliebene Sülze sofort in ein gut verschließbares Glas feucht aufbewahrt wird.

    Die Sülze soll bei der Entgiftung von radioaktivem Wasser helfen: Man muss einen Liter verseuchtes Wasser in eine Milchkanne geben und etwa einen Teelöffel der Sülze zusetzen. Dann kräftig schütteln und das Ganze rund zehn Minuten stehen lassen. Dann das Wasser samt Sülze durch Filterpapier gießen und danach aufkochen lassen. „Nach dem Kochen kann man es trinken und sonst für den menschlichen Genuss verwenden“, heißt es auf dem Flugblatt.

    Die Filterpapiere mit der verbrauchten Sülze und der darin gebundenen Radioaktivität sollen in einem verschließbaren Gefäß an Stellen aufbewahrt werden, die Kindern nicht zugänglich sind. Im Ernstfall sollte es weitere Bekanntmachungen geben, was mit den strahlenden Sülze-Abfällen letztlich geschehen sollte.

    Nach der starken Erhöhung der Radioaktivität in Deutschland machten sich die Regierungsverantwortlichen Anfang der sechziger Jahre besonders Sorgen um die Kleinkinder. Man will Trockenmilch für die Ernährung der Kleinkinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr ausgeben. Mit dem deutlichen Vermerk „Eilt sehr!“ fordert der damalige Gerolzhöfer Landrat Dr. Josef Eugen Held mit Schreiben vom 25. April 1962 alle Gemeinden im Landkreis Gerolzhofen auf, die Namen der Buben und Mädchen bis zu drei Jahren (Stichtag: 10. April 1962) festzustellen, dann „listenmäßig zu erfassen und ihre Zahl dem Landratsamt unverzüglich mitzuteilen“. Ohne dass die Öffentlichkeit darüber informiert wird, werden in den Standesämtern der Ortschaften umgehend Listen mit den Namen der Kleinkinder erstellt und dem Landratsamt übermittelt. Die Namensliste aus dem Gerolzhöfer Stadtgebiet hat sich im Stadtarchiv bis zum heutigen Tag erhalten – ein Who-is-Who der Gerolzhöfer aus den Jahrgängen von Mitte 1959 bis 1962. Nach Maßgabe der eingehenden Meldungen verschickt das Landratsamt Gerolzhofen dann vorgedruckte „Berechtigungsscheine zur Abgabe von Trockenmilch“ an die Gemeinden, die vor Ort noch handschriftlich ergänzt werden müssen. Die Stadt Gerolzhofen beispielsweise erhält mit Schreiben vom 25. Mai 1962 aus dem Landratsamt 364 Berechtigungsscheine zugeschickt.

    Die Ausgabe dieser Scheine sei schon mal vorzubereiten, schreibt Landrat Josef Eugen Held dazu. Allerdings nur verwaltungsintern. Denn die Aktion ist weiterhin noch geheim. „Mit der Ausgabe darf erst nach der Bekanntgabe durch das Bayerische Staatsministerium des Innern begonnen werden“, betont Held.

    „Unter Verschluß“

    Zu einer Ausgabe der Trockenmilch in der Region scheint es aber nicht gekommen zu sein. Zumindest gibt es keinen schriftlichen Beleg dafür. Oder gibt es etwa doch Zeitzeugen, die sich an eine Trockenmilch-Verteilung Anfang der Sechziger erinnern können, insbesondere Mütter, die damals kleine Kinder hatten? Die namentliche Erfassung der Kleinkinder und die Vorbereitungen zur Ausgabe der Berechtigungsscheine jedenfalls blieb auch in der Folgezeit geheim. Davon zeugt ein Vermerk auf dem entsprechenden Akt im Stadtgebiet. In großen Buchstaben, dick unterstrichen und mit Ausrufezeichen ist dort zu lesen: „Unter Verschluß nehmen!“

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden