Icon Menü
Icon Schließen schliessen
Startseite
Icon Pfeil nach unten
Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten
Stadt Schweinfurt
Icon Pfeil nach unten

SCHWEINFURT: Das geht unter die Haut: Asyltheater vertauscht die Rollen

SCHWEINFURT

Das geht unter die Haut: Asyltheater vertauscht die Rollen

    • |
    • |
    Warteschlange im Jobcenter: Ein durchgeknalltes Happening hat sich entwickelt.
    Warteschlange im Jobcenter: Ein durchgeknalltes Happening hat sich entwickelt. Foto: Foto: Elke Tober-Vogt

    „Ausweis, Aufenthaltstitel!“, brüllt mich eine Stimme an. Der Strahl einer Taschenlampe durchschneidet das Dunkel der Rathausdiele, geblendet fingere ich meinen Ausweis hervor: „Ich habe schon bessere Fälschungen gesehen!“ Der Grenzschützer kontrolliert den Nächsten im Publikum. Erstarrt sitzen wir alle da, die Rollen sind vertauscht: WIR stehen plötzlich im Fokus, nicht die Mitwirkenden des multinationalen Asyltheaters „Die Überlebenden“ aus Würzburg.

    Ein goldbekrönter Übermensch auf der Bühne, seine Hassrede prasselt auf uns herab: „Ich bin das Volk“, geifert er, fragt, was wir eigentlich hier wollten. Niemand hätte uns eingeladen, als Schmarotzer nähmen wir denjenigen, die hier etwas geschaffen hätten, alles weg. „Ich werde euch auf dem Boden zerschmettern!“, so der Deutsche, dessen „Nächstenliebe nach einem Sommer erschöpft“ ist. Das geht unter die Haut, ruft kalte Schauer hervor.

    Das Ziel: Empathie entwickeln

    In einer provokanten Mischung aus Tanz, Theater, Musik und Performance werden jedoch nicht nur die Flüchtlinge und ihr Schicksal in den Mittelpunkt gerückt. Unter dem Motto „(not) on board“ geht es ums Fremdsein schlechthin – egal ob man Migrant oder Asylbewerber ist, erläutert mir Leiterin Gina Jiménez, die selbst aus Peru stammt und zum Studium nach Deutschland gekommen ist. Empathie zu entwickeln sei das Ziel der Theatergruppe, die ihre Ideen und Produktionen selbst entwickelt.

    Zehn Bühnenaktive zeigen blitzlichtartige Szenen von entwurzelt Dahintreibenden, von Menschen, die sich mit Hilfe weniger Erinnerungsgegenstände einen kleinen privaten Raum zu schaffen versuchen: ein Familienfoto, eine Kuscheldecke, ein Bild, Bücher, Musik. Doch sind die Menschen gegangen, woher, wohin, warum auch immer, fegt die Putzfrau ihre Spuren achtlos weg.

    Lärm im Jobcenter, ein Angebot beim Schönheitschirurgen

    Lärm im Jobcenter, eine unendlich lange Warteschlange, nichts geht vorwärts. Nach stundenlangem, möglicherweise tagelangem Ausharren hat sich in der Gruppe ein durchgeknalltes Happening entwickelt: Musik, Tanz, ein Liebespaar, man verpflegt sich, mancher nutzt die Zeit zur Körperpflege. Slow-Motion-Effekte lassen den Blick des Betrachters tief ins Innere gehen. Dann ein Schrei des Entsetzens: Nummer 1 in der Schlange hat vergessen eine Nummer zu ziehen! Cut.

    Ein syrischer Flüchtling beim Arzt: Mit schmerzverzerrtem Gesicht bittet er um Hilfe – doch er ist in einer Praxis für plastische Schönheitschirurgie gelandet. Dort bietet man ihm fürs Deutsch-Aussehen eine neue Nase, helle Haut und Haare. Der Syrer tritt den Rückzug an. „So eine Dummheit! Ich hätte ihm das Leben so viel einfacher machen können“, befindet der Chirurg.

    Was macht den Fremden aus?

    Was ist ein Fremder? Nein, nicht was er isst, sondern was ihn ausmacht, wird im Sprachkurs erörtert. Wie lange ist man ein Fremder, was sind Fremde unter Fremden: Die Wirren der Sprachphilosophie werden ad absurdum geführt, man muss ganz schön mitdenken, Szenenapplaus für diese sprachlich fordernde Darstellung.

    Beeindruckend auch die Beschäftigung mit dem Thema „Heilslehre“: Für den einen ist es das Christentum, für den anderen der Islam. Mancher hängt einer politischen Ideologie nach, weitere östlichen Glaubensrichtungen oder esoterischen Glücksversprechen. Immer größer wird das Chaos, bis endlich einer ein Machtwort spricht.

    Schließlich die Kofferszene: Mit wenig Gepäck, jedoch voller Hoffnung erreicht ein Ankömmling sein persönliches gelobtes Land, nur um festzustellen, dass es hier nichts umsonst gibt außer Luft und Wasser. Aus dem Off hageln Fetzen aus aktuellen Fernsehnachrichten auf ihn ein, werden immer völkischer, die Last seines Koffers immer schwerer. Schließlich die rasende Menge: „Wir sind das Volk!“ „Was seid ihr nur für ein Volk?“, setzt der Fremde den Schlusspunkt. Ein tief berührender Abend.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden