Wladimir Kaminer kommt aus dem Staunen nicht heraus. Zum Glück für ihn und zum Glück für seine Leser. Denn das Staunen speist die Kunst des Wladimir Kaminer. Seine Geschichten aus dem Alltag liefern immer wieder neue Blickwinkel auf die mitunter absurden Auswüchse, die das Leben im frühen 21. Jahrhundert prägen.
Kaminer, der auf Deutsch schreibende Berliner Russe, erzählt für sein Leben gern, und so ist bei seiner Lesung auf Einladung der Stadtbücherei – im Rahmen der interkulturellen Wochen – in der ausverkauften Rathausdiele schon eine halbe Stunde vergangen, und er hat gerade mal einen Text gelesen. Den Rest der Zeit hat er erzählt. Aber eigentlich macht es nicht allzu viel Unterschied, ob er liest oder nicht. Es geht immer ums Erzählen. Und wie Wladimir Kaminer die Welt sieht, das ist immer überraschend, komisch und dabei frappierend einleuchtend.
Er ist viel im Ausland unterwegs – als Botschafter der deutschen Kultur, was ihn selbst oft wundert. Demnächst zum Beispiel auf einer Buchmesse in Mexiko. „Aus der ganzen Vielfalt der deutschen Kultur haben sie sich für Russendisko entschieden“, staunt er. Nicht weniger bemerkenswert ist die Tatsache, dass es offenbar in jeder Stadt der Welt, die etwas auf sich hält, mittlerweile ein „Kaffee Berlin“ gibt, in Seoul oder in Melbourne, zum Beispiel. Da ist dann der Gastraum mit Stacheldraht in eine Ost- und eine Westhälfte geteilt – „im Osten ist die ungesunde Raucherlounge und im Westen die Bar“, erzählt Kaminer.
Ihren Schrebergarten haben die Kaminers inzwischen aufgegeben. Es gab Probleme mit spontaner Vegetation, und die unterschiedlichen Zielvorstellungen der Schrebergarten-Kommission haben Olga Kaminer die Freude daran vergällt. Nun haben sie eine Datscha mit richtigem Garten – „da kann sie jetzt spontan vegetieren, so viel sie will“.
Ein unerschöpfliches Leitmotiv bleibt das Spannungsfeld Deutschland-Russland – Ordnung gegen Chaos, so die unwiderrufliche Zuteilung beim „internationalen Klischeevergleich“. Vielleicht Wladimir Kaminers Lieblingsspiel: das Balancieren zwischen Ordnung und Chaos. So kann er sich einerseits über der Deutschen zwanghaftes Bedürfnis nach ausreichend Fluchtwegen oder ihre bedingungslose Bereitschaft amüsieren, ihrem Navigationssystem zu gehorchen, aber eine völlig chaotisch zusammengesetzte TV-Talkrunde zum Thema Religion kann sogar ihn in Angst und Schrecken versetzen.
Das Wort „Fluchtweg“ gibt es im Russischen übrigens nicht. Ebenso wenig wie „Wiedergutmachung“, „Einverständniserklärung“ oder „Versöhnung“. Russen fragen nie, ob einer einverstanden ist, und sie glauben auch nicht, dass man Dinge wiedergutmachen kann, die schiefgelaufen sind.
Dass Dinge schiefgehen, ist ohnehin ein Naturgesetz. „Das Leben ist eine lange Kette von Verlusten, mein Junge“, versucht Kaminer seinen Sohn Sebastian zu trösten, dessen Kuscheltier Xavier wieder einmal verschwunden ist. „Man muss jede Hoffnung fahren lassen und niemals über das trauern, was nicht mehr ist.“ Sebastian trauert aus Trotz weiter.
Natürlich ist Wladimir Kaminer kein Defätist. Dazu macht ihm das fortwährende Scheitern an der Weltsicht der anderen viel zu viel Spaß. Der Ethikunterricht seiner Kinder, hat er festgestellt, ist der „blanke Wahnsinn“. So sollen die Kinder entscheiden, wie sie sich verhalten würden, würden sie einen Freund beim Ladendiebstahl erwischen. Richtige Antwort: Sie sollen ihn verpfeifen. Begründung: Er wird eines Tages dankbar dafür sein. Kaminer ist fassungslos: „Ich sehe ihn schon im Knast – Dankesbriefe schreiben.“
Und da ist dann noch das ewige Ringen der Geschlechter, das sich heute ein wenig anders darstellt als in Kaminers Jugend. Damals drucksten zwölfjährige Jungs bestenfalls hilflos herum, wenn sie einem Mädchen gegenüberstanden. Heute läuft das anders: „Sind deine Eltern Terroristen? Du siehst aus wie eine Bombe.“ Und Wladimir Kaminer staunt.