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SCHWEINFURT: Den Menschen beim Ankommen helfen

SCHWEINFURT

Den Menschen beim Ankommen helfen

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    Kazim Erdogan und Sonja Hartwig stellten in der „Disharmonie“ das Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“ vor.
    Kazim Erdogan und Sonja Hartwig stellten in der „Disharmonie“ das Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“ vor. Foto: Foto: Karl-Heinz Körblein

    Am 2. Februar 1974 kam er mit dem Bus am Münchner Hauptbahnhof an. Von Deutschland wusste er nicht viel. Dass die Menschen Kartoffeln und Schweinefleisch essen, dass es ein reiches Land ist, deutsch konnte er nicht. Er war in einem anatolischen Dorf geboren worden, die Eltern, die beide weder schreiben noch lesen konnten, hatten ihn auf ein Internat geschickt, in Deutschland wollte er studieren. Er hatte jedoch nur ein Urlaubervisum, schlug sich mit Hilfsarbeit durch, wurde aufgegriffen, sollte abgeschoben werden. Die Bestätigung der Freien Universität Berlin, dass er einen Sprachkurs machen könne, verhindert dies.

    Zu Gast in der „Disharmonie“

    So beginnt die Geschichte vom Kazim Erdogan, der noch immer in Berlin lebt, Soziologie und Psychologie studiert und für den Senat als Sozialarbeiter gearbeitet und durch sein großes ehrenamtliches Engagement als „Kalif von Neukölln“ deutschlandweit Aufmerksamkeit gefunden hat.

    Die Journalistin Sonja Hartwig hat mit ihm zusammen das Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“ geschrieben und es jetzt auf Einladung des Jugendwerkes der Arbeiterwohlfahrt und der Georg-von-Vollmar-Akademie in der Kulturwerkstatt „Disharmonie“ vorgestellt.

    Die erste Generation der Türken in Deutschland wollte dort nur Gast ein, ein türkisches Leben in Deutschland führen. Das war auch bei Kazim Erdogan so. Die politischen Verhältnisse in der Türkei in den 1980er-Jahren hielten ihn jedoch von einer Rückkehr ab. Er blieb und kümmerte sich um Menschen, die aus der Türkei kamen. Dabei unterscheidet er zwischen Ankunft und Ankommen.

    Kommunikation auf Augenhöhe

    Beim Ankommen helfen, wurde ihm zum Lebensinhalt. Dazu hat er sich einige Werkzeuge zugelegt: Kommunikation auf Augenhöhe, mit einer verständlichen Sprache sprechen, die Menschen dort abholen, wo sie gerade sind. Anerkennung, Wertschätzung, Akzeptanz, Toleranz und Vertrauen sind ihm zentrale Stichworte.

    Kazim Erdogan mag das Wort „Migrationshintergrund“ nicht. Er spricht lieber von „Zuwanderungsgeschichte“. Weil das auf den Menschen verweist, der etwas erlebt hat. „Man muss die Geschichte dahinter sehen, mit allen Schattierungen.“ Auch das Wort „Integration“ ist für ihn problematisch, lieber spricht er von Partizipation und Teilhabe.

    „Aufbruch Neukölln“

    In Berlin hat der heute 64-Jährige mit dem Verein „Aufbruch Neukölln“ acht Väter- und Männerselbsthilfegruppen gegründet. Immer montags kommen die Männer mit türkischem oder arabischem Hintergrund zusammen, um zu reden. Es sind oft zwischen den Kulturen zerrissene Persönlichkeiten.

    In der im Buch festgehaltenen Geschichte von Adem wird deutlich, um was es dabei geht. Adem ist in der Türkei aufgewachsen. Der Vater hat sich für ihn nicht sonderlich interessiert, die Mutter ihn einerseits abgöttisch geliebt und dann doch immer wieder brutal geschlagen. In Deutschland will er von der ihm zwangsverheirateten Ehefrau nichts mehr wissen, zeigt ihr offen seine Verachtung. Den beiden Kindern soll es einmal besser als ihm gehen. Er schlägt den Sohn immer wieder hart, wenn der nicht macht, was er will oder beim Stehlen erwischt wird. „Wir helfen uns durch Reden“, sagt Erdogan. Die Männer erfahren, dass viele ähnliche Erlebnisse hatten.

    Es gibt keine Tabuthemen

    Offen sind die Gruppen für jedermann. Es kommen Männer im Alter von 20 bis 75 Jahren. Tabuthemen gibt es keine. Gesprochen wird über Fragen von Gewalt, Integration, Toleranz, Sexualität und Sucht. Dreimal war sogar der umstrittene Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab“) zu Gast. Kein Verständnis hat Kazim Erdogan für die Fußballstars Özil und Gündogan, die sich mit Ministerpräsident Erdogan demonstrativ fotografieren ließen. Er hätte sie nicht mit zur WM genommen. Geärgert hat er sich über die „zwei Typen“, die besser ihren Verstand eingesetzt hätten, „weil sie ein Stück meiner Arbeit zunichte gemacht haben.“

    Zwischen Stamm und Borke

    Warum so viele Türken in Deutschland Recep Tayyip Erdogan wählen? Kazim Erdogan spricht davon, dass nicht alle Träume der Menschen in Erfüllung gehen, sie oft auch zwischen Stamm und Borke leben, sich nicht richtig akzeptiert sehen.

    Auf ihrer Lesereise werben Erdogan und Hartwig für ähnliche Gruppen wie in Berlin. In München haben sie gerade eine gegründet. In Schweinfurt dürfte dies eher schwierig sein. Türkischstämmige Besucher gab es in der Disharmonie nur ganz wenige.

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