Es sind rund 40 Geschichtsinteressierte, die sich an diesem Abend im Gasthaus „Zum Kapellenberg“ eingefunden haben. Stephan Oettermann, Vorsitzender des Historischen Vereins und ehemaliger Stadtarchivar, will in seinem Vortrag die Geschehnisse nachzeichnen, die sich an jenem Donnerstag, 10. November 1938, in Gerolzhofen und Frankenwinheim abgespielt haben.
Kein leichtes Unterfangen, wie er zugibt, basiert sein Referat doch auf den zusammengefassten Vorermittlungen des Gerichts zum Synagogenprozess 1950 und den während des Prozesses protokollierten Zeugenaussagen. Und ein Gericht, so betont Oettermann, „interessiert sich nicht für historische Wahrheit und die ganze Geschichte“.
Ereignisse, die nicht justiziabel sind, interessieren dabei ebenso wenig wie Personen, die nicht unmittelbar Täter oder Zeugen waren oder die, aus welchen Gründen auch immer, strafrechtlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Auch wurde, so Oettermann, im gesamten Prozess keines der Opfer gehört.
Lückenhafte Akten
Dem Gericht sei es nicht einmal gelungen, den zeitlichen Ablauf der Ereignisse jenes Tages exakt zu klären. Geschweige denn, wie viele Personen daran aktiv oder passiv beteiligt waren. Die Akten sprächen vage von „der Menge“. „Deshalb bleibt die folgende Geschichte des Gerolzhöfer Novemberpogroms mehr als lückenhaft und unbefriedigend“, befindet Oettermann. Und doch gelingt es ihm in seinem rund einstündigen Vortrag, den Zuhörern die ganze Unmenschlichkeit und den Widersinn der damaligen Ereignisse vor das geistige Auge zu führen.
Auslöser des Pogroms war das Attentat des jungen Juden Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris. Dessen Tod zwei Tage später, am 9. November 1938, war Wasser auf die Mühlen der nationalsozialistischen Propaganda. Von München aus, wo just an diesem Tag des gescheiterten Hitler-Putsches von 1923 gedacht wurde, schwappte der Aufruf Goebbels zum „Volkszorn gegen die Juden“ in die Gaue des Hitler-Reiches.
Obwohl es keinen direkten Befehl zur Auslösung des Pogroms gab, verstanden ... ... die Kreisleiter die Aufforderung ganz im Sinne der Nazis. So auch Wilhelm Heer in Kitzingen. Dort brannte bereits in den frühen Morgenstunden des 10. September die Synagoge. In Gerolzhofen erreichte Heer erst morgens um 8 Uhr Ortsgruppenleiter Ludwig Zrenner und wies ihn an, endlich etwas gegen die jüdische Bevölkerung zu unternehmen. Auch im Landratsamt war am Morgen die Weisung eingegangen, männliche jüdische Bürger in Schutzhaft zu nehmen und jüdische Wohnungen und Häuser zu durchsuchen.
Zrenner zögerte zunächst. Nicht zuletzt deshalb, weil die Gerolzhöfer Nationalsozialisten erst kurz zuvor in Gerolzhofen und vor allem in Frankenwinheim eine Strafaktion – die sogenannte Brunnenvergifter-Aktion – gegen die jüdische Bevölkerung gestartet und, da diese nicht von oben gedeckt war, Ärger mit der Gestapo bekommen hatten. Und ein formeller Befehl lag eben auch an diesem 10. November nicht auf dem Tisch.
Dennoch versammelte Zrenner im Lauf des Vormittags die Mitglieder der SA. In der Gaststätte Reissweber wurde über das weitere Vorgehen beraten. Feuerwehr-Kommandant Hans Härterich machte dabei klar, dass er wegen des Wassermangels in der Stadt ein Anzünden der Synagoge keinesfalls billigen würde. Gegen Mittag kam es so zwar zu einer ersten Attacke auf die Synagoge, die Zerstörungswut hielt sich aber noch in Grenzen.
Am frühen Nachmittag fuhr die Gerolzhöfer SA dann nach Frankenwinheim, wo bereits ein Trupp aus Volkach in der Synagoge gewütet hatte. Die jüdische Bevölkerung wurde malträtiert, das Inventar und die Ritualgegenstände der geschändeten Synagoge gingen auf einem Acker in Flammen auf. Einige unscharfe Fotos, die nach dem Krieg als Beweisstücke in den Synagogenprozess eingingen und in der Frühjahrsausstellung in diesem Jahr erstmals veröffentlicht wurden, zeigen die Vorgänge am Scheiterhaufen, konnten aber zur Wahrheitsfindung wenig beitragen.
Gegen 18 Uhr kehrten die SA-Männer nach Gerolzhofen zurück. Dort hatte sich indes Kreisleiter Heer persönlich bei Ortsgruppenleiter Zrenner über das zu lasche Vorgehen gegen die Juden in der Stadt beklagt. Rund 40 SA- und SS-Angehörige zogen daraufhin nochmals zur Synagoge, drangen zunächst in die Wohnung des Judenlehrers Heinrich Reiter ein, misshandelten dessen Frau Recha, und schlugen schließlich in der Synagoge alles kurz und klein.
Scheiterhaufen am Säusee
Zwar wurde das Gotteshaus aus Angst um umliegende Gebäude nicht wie andernorts angezündet, wohl aber das Inventar am Säusee auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Im Lauf des Abends kam es auch zu Plünderungen in jüdischen Wohnungen... ... Insgesamt 47 Personen, darunter sechs Frauen und sieben arische „Judenknechte“, kamen bei den Aktionen im Kreis Gerolzhofen in „Schutzhaft“.
Juristische Aufarbeitung erfuhr die von den Nazis höhnisch als „Reichskristallnacht“ titulierte Aktion in Gerolzhofen im Jahr 1950. Von 160 Verdächtigen wurden gerade einmal 16 angeklagt, zwölf erlebten den Prozess. Die Wahrheitsfindung erwies sich als schwierig. Von den mehr als 50 Geschädigten hatten sich lediglich zwei emigrierte Frankenwinheimer Juden mit von US-Anwälten beglaubigten eidesstattlichen Erklärungen zu Wort gemeldet. Ob und in welcher Weise das Gericht diese zur Kenntnis genommen und bewertet hat, so Oettermann, sei den Unterlagen nicht zu entnehmen.
Die Angeklagten zeigten beim Prozess im Saal des „Wilden Mann“ fast durchweg nicht die geringste Reue, logen in ihren Aussagen „dass sich die Balken bogen“ und gaben nur zu, was ihnen längst bewiesen war. Wenn man davon ausgehe, dass sich alle Aussagen zu einem Gesamtbild addieren müssten, sei es in diesem Fall eher umgekehrt, meint Oettermann. Kumuliere man alle Unwahrheiten, Ausflüchte und Lügen, bleibe am Ende eine Art Loch: „Am 10. November 1938 hat es kein Gerolzhofen gegeben, und in der Geschichte Gerolzhofens hat es nie einen 10. November 1938 gegeben.“
Der gesamte Prozess sei durchgängig gekennzeichnet gewesen durch die geradezu zynische Anwendung der Unschuldsvermutung. Nur fünf Personen wurden letztlich wegen ihrer Beteiligung am Gerolzhöfer Judenpogrom verurteilt. Das höchste Strafmaß betrug 21 Monate.
Nach dem Referat ergreift Altbürgermeister Hartmut Bräuer das Wort. „Der Vortrag war nicht darauf ausgelegt, Personen herauszuheben und zu geißeln“, attestiert er Oettermann: „Das war keine Anklage, es war eine Aufarbeitung der Geschichte.“ Dass man nach 71 Jahren die Kraft finde, dieses hochsensible Thema aufzugreifen und offen über die Zeit reden zu können, sei sehr wichtig. Ebenso, wie wachsam zu sein und ähnliche Ereignisse in der Zukunft unmöglich zu machen.