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SCHWEINFURT: Die Möwe in Meiningen: Die Kraft der Provinz

SCHWEINFURT

Die Möwe in Meiningen: Die Kraft der Provinz

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    Vor 140 Jahren begann die Reisezeit der Meininger mit Gastspielen im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater zu Berlin, dem Vorläufer des Deutschen Theaters. Gezeigt wurde zuerst eine Inszenierung von Shakespeares Tragödie „Julius Cäsar“. Und nun, im Jahr 2014, gastierte zum 100. Todestag des Theaterherzogs Georg II. das Deutsche Theater Berlin in Meiningen.

    Sechs Wochen blieben die Meininger 1874 in der, wie der Historiker Alfred Erck urteilt, „kulturell noch unterentwickelten neuen Reichshauptstadt“. An anderer Stelle seiner „Geschichte des Meininger Theaters“ beschreibt er die Wirkung der herzoglichen Theatertruppe aufs Berliner Publikum: „Historisch getreu in der Ausstattung, bis unter die Haut gehend in der Darstellung, trafen die Gefühlsausbrüche den Nerv einer Gesellschaft, die bei aller Selbstherrlichkeit das Gespür für die Gefährdetheit ihrer Existenz noch nicht verloren hatte. Die extreme Anspannung entlud sich im nicht enden wollenden Beifallssturm.“

    Zeitenwechsel. 140 Jahre danach gastiert das Ensemble des Deutschen Theaters (DT) in Meiningen. Bereits in der Feierstunde zu Ehren des Theaterherzogs hatte Ulrich Khuon, der Intendant des DT, die Pionierleistungen der Meininger zur Entwicklung von Regietheater, Ensemblespiel und Ausstattungsrealismus gewürdigt. Zwei Tage später ist Tschechows „Die Möwe“ auf der Meininger Bühne zu sehen, in der grandiosen Inszenierung des 2009 verstorbenen Regisseurs Jürgen Gosch aus dem Jahr 2008, die noch immer im Repertoire des Deutschen Theaters gespielt wird. Mit Corinna Harfouch als Schauspielerin Irina Nikolajewna Arkadina und vielen hervorragenden Mimen an ihrer Seite, wie etwa Kathleen Morgeneyer, Meike Droste, Christian Grashof und Peter Pagel.

    Anfangs glauben die Zuschauer noch, der künstliche Eiserne Vorhang, auf dem sich auf einer Sitzbankausbuchtung die Akteure niedergelassen haben, werde sich nach einigen Präliminarien heben, um den Blick auf russische Seelen in russischer Landschaft freizugeben. Doch der Eiserne Vorhang hebt sich nicht.

    Alles Geschehen findet auf der Vorbühne statt – ohne Kulissen. Säßen wir im alten Meininger Theater am Ende des 19. Jahrhunderts und Georg II. verfolgte die Vorstellung von seiner Seitenloge aus – die Interpretation würde ihn über alle Maßen irritieren: Wo sind die historischen Kulissen, wo die Gewänder der russischen Bildungsbürgergesellschaft aus der Provinz?

    Gleichzeitig wäre er fasziniert von der Sprechkultur der Schauspieler und der emotionalen Wahrhaftigkeit ihres Spiels. Würde der Theaterherzogs allerdings – in welcher Gestalt auch immer – im Jahr 2014 leben und seine damals theaterrevolutionären Gedanken, wie man heute so schön sagt: upgedatet haben, dann wäre er von der gesamten Inszenierung des tragikomischen Lebens von Künstlern und Künstlerfreunden in der Provinz hellauf begeistert, also auch von der fehlenden naturalistischen Kulisse.

    Ein zukünftiger Chronist des Berliner Gastspiels in Meiningen 2014 könnte, in Anlehnung an Professor Ercks Worte über das Meininger Gastspiel in Berlin schreiben: „Historisch innovativ in der Ausstattung, bis unter die Haut gehend in der Darstellung, trafen die Gefühlsausbrüche den Nerv einer Gesellschaft, die bei aller Selbstherrlichkeit das Gespür für die Gefährdetheit ihrer Existenz noch nicht verloren hatte. Die extreme Anspannung entlud sich im nicht enden wollenden Beifallssturm.“

    Drei zusätzliche Bemerkungen würde sich der Chronist in der Zukunft, dank weiterer Zeitzeugnisse, nicht verkneifen können. Erstens: Nur das Ensemble – nicht die einzelnen Darsteller – verneigte sich vor dem geschätzten Publikum. Zweitens: Wann erlebt man schon ein Spiel, bei dem man sofort vergisst, dass es ein Spiel ist? Drittens: Natürlich würde der Chronist Meiningen niemals als ein „kulturell noch unterentwickeltes Städtchen hinter den Sieben Bergen“ bezeichnen.

    Nachdem er die Rede der thüringischen Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht beim Festakt zu Georgs Todestag im Archiv ausgegraben hat, fiele ihm zu Meiningen nur noch ein: „Südthüringisches Identitätszentrum mit der Kraft der Provinz.“ Selbst wenn Tschechow das Leben am Lande mit ganz anderen Augen sieht. Foto: Foto ED

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