Man muss nicht unbedingt Englisch oder Amerikanisch sprechen können, um die Sprache zu verstehen, die Jason Reynolds spricht. Er spricht die Sprache der amerikanischen Jugend und die hat ganz viel mit der Sprache junger Deutscher zu tun, gerade wenn es um Lebensstil, Mode, Musik, Kriminalität oder Polizeigewalt geht. Somit war die zweisprachige Lesung des Jugendbuchautors aus Amerika hinter den Gittern von Bayerns größtem Jugendgefängnis, der Justizvollzugsanstalt in Ebrach, quasi ein Heimspiel. So wurde es auch von ihm selbst und seinem Publikum in der einstigen Klosterbibliothek empfunden.
In dem Milieu, in dem Jason Reynolds jüngste deutsche Neuerscheinung „Nichts ist okay. Zwei Seiten einer Geschichte“ (Originaltitel: All American Boys) spielt, fanden sich rasch auch die jungen Straftäter auf den Zuhörerstühlen wieder. Reynolds kam dabei sicher zupass, dass er regelmäßig in US-Gefängnissen aus seinen Büchern liest.
Das White Raven Festival
Im Rahmen des „White Raven Festivals“ der Internationalen Jugendbibliothek in München war es der JVA gelungen, den bekannten amerikanischen Jugendbuchautoren für eine Lesung in der JVA zu gewinnen. Die Fäden auf diesem Gebiet wie zum Beispiel zur Villa Concordia in Bamberg zieht immer wieder mit Erfolg Anstaltslehrer Jörg Hinney. Er ist es auch, der sich stark für die Gefängnisbibliothek engagiert, in der Häftlinge die Möglichkeit haben, sich Bücher auszuleihen und in der auch die alljährlichen Autorenlesungen stattfinden.
Die alte Sommerbibliothek der Mönche
Das Ambiente hier In der schmucken Gefängnisbibliothek könnte nicht passender sein, handelt es sich doch um die feinfühlig restaurierte einstige Sommerbibliothek der Zisterziensermönche, die hier bis zur Säkularisation im Kloster Ebrach lebten.
Seit 60 Jahren dient die große klösterliche Liegenschaft als Bayerns größtes Jugendgefängnis, in dem die älteren und vor allem ganz schweren Jungs vom Mörder bis zum U-Bahn-Totschläger ihre Haftstrafen absitzen.
Die Geschichten hinter den Geschichten
Alle zwei Jahre lädt die Internationale Jugendbibliothek in München, wie erwähnt, herausragende Kinder- und Jugendbuchautoren und Illustratoren aus aller Welt zum White Ravens Festival für Internationale Kinder- und Jugendliteratur nach München ins Schloss Blutenburg ein. Von dort aus werden die Gäste vier Tage auf Lesereise durch ganz Bayern geschickt. In Schulen, Stadt- und Gemeindebibliotheken, Museen aber auch Gefängnissen stellen sie ihre Kinder- und Jugendbücher vor, erzählen von den Geschichten hinter den Geschichten und beantworten geduldig die Fragen ihrer Leser und Zuhörer.
Übersetzungen ins Deutsche
In diesem Jahr sind 13 Autorinnen und Autoren aus elf Ländern in ganz Bayern auf über 90 Veranstaltungen unterwegs, um das Festival und die Arbeit der Internationalen Jugendbibliothek mit ihrer Sammlung von mehr als 600 000 Kinder- und Jugendbüchern in über 130 Sprachen durch lebendige Autorenbegegnungen nach draußen zu tragen. Einer von ihnen ist Jason Reynolds mit seinem Roman „Nichts ist okay. Zwei Seiten einer Geschichte“, aber auch seinen neun anderen bisher in Englisch und in bisher drei Fällen auch in deutscher Übersetzung erschienenen Bücher wie „Ghost“, „Miles Morales: Spiderman“, „Long way down“, „The Boy in the black Suit“ oder „Everyone“ im Reisegepäck. Aufgrund des Erfolgs sollen nun auch die anderen Romane ins Deutsche übersetzt werden.
Ein neuer Star der Jugendbuchszene
Jason Reynolds (USA), geboren 1983, studierte Englische Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben an der University of Maryland. Er lebt in Washington, D. C., der Hauptstadt. Jason Reynolds In den USA gehört er zu den neuen Stars der Jugendbuchszene. Seine Bücher wurden bereits mehrfach ausgezeichnet.
Jason Reynolds war nicht allein nach Ebrach gekommen. Begleitet wurde er von Claudia Söffner, der Spezialistin der Internationalen Jugendbibliothek für die englischsprachige Abteilung. Sie fungierte als Moderatorin und Übersetzerin zugleich. Dem Journalisten, Fotografen sowie Fernseh- und Rundfunksprecher Ralph Wagner kam die Aufgabe zu, im Rahmen der zweisprachigen Lesung die für diesen Anlass ausgewählten deutschen Textpassagen zu lesen.
Polizeigewalt gegen Afroamerikaner
Der Roman „Nichts ist okay. Zwei Seiten einer Geschichte“ (im Original: All American Boys) greift die aktuelle amerikanische Debatte über Polizeigewalt gegen Afroamerikaner auf. Reynolds erzählt von einem brutalen rassistischen Übergriff eines Polizisten auf einen Jugendlichen in einem Laden, in dem sich ein junger Schwarzer auf dem Weg zu einer Party noch schnell Chips und Kaugummis kaufen will. Die Geschehnisse werden aus der Perspektive des jugendlichen, schwarzen Opfers Rashad geschildert und dessen weißen Mitschülers Quinn, der die Tat beobachtet und den Täter kennt, denn er ist der große Bruder seines besten Freunds.
Als der halb von dem Polizisten totgeschlagene Junge noch im Krankenhaus liegt, sorgt ein auf den Gehsteig vor der Schule gesprühtes Graffiti „Rashad fehlt heute wieder“ für Unruhe und mehr und mehr zwiespältige Gefühle bei Quinn.
Gut zu lesen und unterhaltsam
Die Lesung zeigte, dass die Bücher von Jason Reynolds gut zu lesen und unterhaltsam sind, gleichzeitig aber auch zum Nachdenken anregen. Als reizvoll erwies sich, dass der Autor zunächst aus der Originalversion in Englisch las, um dann ins Deutsche zu wechseln und hierzu den Stab an Ralph Wagner weiterzureichen. Dazwischen gab es immer wieder fragen. Etwa wie er überhaupt zum Schreiben gekommen sei.
Reynolds erzählte hierzu von seinem Leben in Washington, das von Gewalt, Drogen, Gangs und anderem mehr bestimmt war. „Aber es gab keine Bücher, die dieses Leben beschrieben haben“, machte er deutlich. So kam er mehr durch Zufall zum Bücherschreiben. Er betonte: „Bücher über Wale, Boote oder andere Dinge zu lesen, kam mir albern vor. Damit konnte ich nichts anfangen. Ich wollte die Wirklichkeit beschreiben.“ Dann seien die Rapper gekommen, „die ehrlich ausgesprochen haben, was wir dachten und fühlten“. Natürlich habe er es ausprobiert zu rappen. Das sei aber nicht sein Ding gewesen.
Die Rapper als die wahren Dichter
Die Texte der Rapper als die „wahren Dichter“ in den Booklets seien die ersten Texte gewesen, die er richtig als „seine Version von Shakespeare“ gelesen habe und über die er allmählich zum Schreiben von Gedichten gekommen sei. Zehn Jahre lang habe er nur für sich geschrieben, dadurch aber sein Leben gerettet, als die Familie auseinanderbrach, der Bruder kriminell und drogenabhängig geworden ist und die Mutter an Krebs erkrankte.
Ermuntert von einem Freund, habe er schließlich angefangen, nach dem Motto „Hier ist jemand, der sieht, wie es Euch geht“ so zu schreiben, wie er eben schreiben und sprechen würde, authentisch eben. Am Anfang stand dabei eine Geschichte, für die sein Bruder und ein Nachbarsjunge als Vorlage dienten.
Was man mit Bücherschreiben verdient
Natürlich wollten die Gefangenen brennend wissen, was man mit Bücherschreiben verdienen kann. Die Masse macht es, kann man sagen. Pro Buch bleibt Jason Reynolds rund ein Dollar. Allerdings gab er an, immerhin schon eine Million Bücher verkauft zu haben. Es habe aber auch lange Durststrecken für ihn gegeben. Erst nach zehn Jahren sei der richtige Durchbruch gekommen.
Wie lange er an einem Buch schreibt? Das sei unterschiedlich so Reynolds. Manchmal braucht ein Buch zwei Jahre, manchmal nur ein paar Wochen wie „Long way down“. Nachdem er das Manuskript aber 25 Mal umgeschrieben hatte, seien am Ende auch eineinhalb Jahre ins Land gegangen. Sein erstes Buch habe er mit 21 geschrieben, so der inzwischen 35-Jährige.
Am Ende der Lesung war dem Amerikaner lang anhaltender Beifall sicher.