Berlin, Staatsoper. Die russische Balletttänzerin Polina Semionova ist allein auf der Bühne und tanzt ihre Interpretation vom Lied „Demo (Letzter Tag)“, und Herbert Grönemeyer lässt seine Seele singen. Gebannt verfolgen rund 45 Personen das Video auf der Leinwand in der Johanniskapelle in Gerolzhofen. „Weiß man, wie oft ein Herz brechen kann? Lohnen sich Gefühle? Wie viele Tränen passen in einen Kanal?“, singt Grönemeyer, und Semionova tanzt ihre Gefühle, ihre Trauer in die Welt hinaus.
Am Ende des Liedes wendet sich der Moderator, Pfarrer Jean-Pierre Barraud, an sein Publikum. „So viele Fragen in einem Liedtext, und wir stellen uns die Frage: Was heilt die Zeit inmitten dieser unserer Zeit? Heilt sie wirklich alle Wunden?“ Vor allem die Wunden der Trauer, um die es in einem Gespräch zwischen zwei ausgewiesenen Fachleuten des Trauerpastorals geht.
Barraud ist der Moderator, das Thema lautet „Zeit heilt Wunden!? – Erfahrungen aus der Trauerpastoral“. Es ist Teil des Rahmenprogramms zur derzeit laufenden Ausstellung „Zeit“ der Würzburger Künstlerin Barbara Schaper-Oeser in der Johanniskapelle Gerolzhofen.
Nein, die Zeit heile keine Wunden, sagt Margarete Frey-Lingscheidt, „gerade die Trauer um einen geliebten Menschen braucht seine Zeit, seine Rituale, um Trost zu erfahren“. Früher, sagt die Trauer- und Traumafachberaterin aus Gerolzhofen, habe man die Trauer in Phasen eingeteilt. Zunächst der Schock, dann wilde Gefühlsausbrüche, ein Leben in der Trauer, „und dann heißt es, dass sich der oder die Trauernde wieder dem Leben nähern und sich innerlich vom Verstorbenen lösen und offen und frei für Neues werden soll“.
Das habe suggeriert, als wenn ein Trauernder nur einen Schritt nach dem anderen zur „Normalität“ machen müsse. „Das gilt jetzt nicht mehr, denn jeder Mensch trauert auf seine ganz eigene Weise, und es gibt keine Zeitspanne mehr, nach der sich die Trauer aufzulösen hat“, sagt Frey-Lingscheidt. Ans Publikum gewendet, sagt sie: „Lassen Sie sich nicht vorschreiben, wie lange Sie trauern dürfen, und lassen Sie Ihre Trauer zu.“ Wer das Gefühl Trauer deckelt, der würde auch alle anderen Gefühle deckeln. Mit der Folge, dass der Trauernde mit der Zeit verhärtet und ausdrucksarm werden kann, „bis hin zu Depressionen, weil es viel Kraft erfordert, den Deckel draufzuhalten“.
Als Kind der Nachkriegszeit habe sie viele Versehrte gesehen, doch gesprochen wurde daheim darüber nicht. Auch ihr Vater war Kriegsgefangener, „wenn er überhaupt etwas erzählt hat, dann die lustigen Sachen aus dem Lager, alles andere hat er totgeschwiegen“. Spürbar waren die Trauer des Vaters, das Gefühl von Schuld und eine nicht verarbeitete, ungewollte Beteiligung am Krieg. Als die Oma starb, „ging ich nicht mit zur Beerdigung, weil ich es gar nicht gewusst habe, meine Eltern haben es verschwiegen. Bei einem Friedhofsbesuch, Monate später, entdeckte ich das Grab meiner Oma, aber verstehen konnte ich es nicht“. So hatte Frey-Lingscheidt jahrelang eine latente, also verdeckte Trauer in sich getragen und sich dann berufsmäßig der Trauerarbeit zugewendet
Ihr Gesprächspartner Pfarrer Georg Güntsch, ehemaliger Dekan des Dekanats Castell, berichtet aus seiner Zeit als evangelischer Bischof in der Ukraine. Bei der Beerdigung einer an Krebs verstorbenen jungen Frau namens Victoria („Siegerin“) stellten sich die Angehörigen die Frage, wo denn der Sieg nun sei. „Der hat sich darin gezeigt, dass die junge Frau ihr Leben lang nah bei Gott war und im Krankenhaus die Ärzte überzeugt hat, zum christlichen Glauben überzutreten“, sagt Güntsch. Besagte Victoria hätte es abgelehnt, Gott um ein „zufriedeneres Leben“ zu bitten, „sie hätte gesagt: Mein Leben war ein Sieg“.
Güntsch berichtet auch, dass Menschen in Osteuropa und in südeuropäischen Ländern eine andere Mentalität haben, was den Umgang mit dem Tod angeht. „In der Ukraine etwa stellen die Angehörigen an den Gräbern der Verstorbenen Tische und Bänke auf und essen und trinken gemeinsam mit den Verstorbenen.“
Oft würden die Angehörigen, fragen, warum Gott das zugelassen hat, dass ein geliebter Mensch stirbt, so Güntsch weiter. Manche würden gar heftig an Gott zweifeln, und das sei nur auf den ersten Blick negativ. „Wer zweifelt, der bearbeitet etwas. Zweifel sind sinnvoll und richtig, wenn sie bearbeitet und nicht totgetreten werden und wenn wir uns mit ihnen und mit Gott auseinander setzen.“