Zeitungen sind Zeitdokumente. Wer heute für die Zukunft baut, bestückt deshalb gerne so genannte „Zeitkapseln“ mit aktuellen Münzen, Geldscheinen, statistischen Informationen zu Objekt und Standort sowie einer lokalen Zeitung vom Tage. Die oft kupfernen, luft- und wasserdichten Kapseln werden dann in den Grundstein eingemauert, und Jahrzehnte oder Jahrhunderte später können die Menschen sich dann ein Bild davon machen, wie ihre Ur- und Ururahnen einmal gelebt haben und was sie bewegte.
Als die Vorfahren von Werner und Isolde Hiernickel aus Garstadt vor der 19. Jahrhundertwende ihr Häuschen an der Dorfstraße errichteten, hielten sie dies mutmaßlich nicht für einen Bau, der noch 125 Jahre später von Interesse sein wird. Aber das solide Bauwerk, Stein auf Stein hochgezogen, erfüllte lange Zeit seinen Zweck – auch als Dorfladen. Eine „Zeitkapsel“ wurde dem Gemäuer nicht beigegeben. Und doch ist es heute Zeuge des Lebensstils um 1886 in unserer Region.
Denn die Bauherren – wohlhabende Leute – spendierten den Räumen edle Strukturtapeten. Damit diese aber auf dem sandigen Innenputz der Wände hielten, wurden als Tapeziergrund Lagen von Zeitungspapier aufgebracht. Die hafteten besser an dem rauen Gestein und schufen auch eine stabile Verbindung zur glatten Rückseite der schweren Tapete. Eine Verbindung, die gut 125 Jahre hielt. Erst in diesen Tagen lösen sich die Tapeten langsam von den Wänden und geben den Blick auf die Zeitdokumente von einst frei. Isolde Hartmann überlieferte sie jetzt der Tagblatt-Redaktion.
Silberrubel & Co.
Das Schweinfurter Tagblatt datiert vom 6. Juli 1886; diese Zeitung gab es damals schon 30 Jahre lang. Veröffentlicht ist beispielsweise der „Coursbericht“ vom Tag zuvor – also eine Übersicht der aktuellen Währungskurse. Franc, Dollar und Silberrubel werden da ins Verhältnis zu Mark und Pfennig gesetzt, außerdem notiert das Blatt die Ankaufkurse für in- und ausländische Eisenbahnaktien. Fotos waren in der alten Ausgabe noch rar, aber Zeichnungen gab es ein paar. Und auch schon klassische Zeitungsanzeigen. „Wichtig für deutsche Damen: Keine schlechtsitzenden Kleider mehr!“ Die „Gesellschaft für wissenschaftliche Zuschneidekunst“ warb in dieser Ausgabe für ihren Unterricht – wahlweise in den Berliner Lehrsälen oder privat zuhause. Für 20 Mark wurde die „deutsche Dame“ unterrichtet „bis zur vollständigen Beherrschung des Systems der Wissenskunst“. Und einen „kompletten Satz von Instrumenten“ gab's noch obendrauf.
Ein Betrieb aus Nipperwiese in Stettin preist „Englische Riesen-Futterrüben“ an. Hiermit könne sich jeder Landwirt vor Futtermangel schützen. Die Rüben seien „die ertragreichsten aller bisher bekannten“ und bedürften „nach der Aussaat keinerlei Bearbeitung mehr“. Auf den damals offensichtlich akuten Futtermangel weist auch der Markt- und Schrannenbericht vom selben Tag hin. Viele Futtermittelbestände seien noch nicht ergänzt, die dargebotenen Waren „weniger feil“.
Die Moritat vor dem Wirtshause
Wie heute auch berichtete das Tagblatt anno 1886 aus den Polizeiakten; Belange des Personenschutzes fanden dabei jedoch weniger Beachtung. „In der Nacht zwischen 12 und 1 Uhr kam Julian Pfeuffer auf der Straße vor dem Wirtshause mit einigen Burschen, darunter Erasmus Schubert, in Wortwechsel. Auch Emil Herbst, Bauernsohn von Brend, kam dazu und hörte den Julian Pfeuffer mit den übrigen Burschen zertiren, von denen einer sagte: Wir gehen noch hinauf. Als E. Herbst sich umwendete, sah er, wie die Burschen davonsprangen und Julian Pfeuffer ihnen nachlief. Beim Hause des Andreas Buchs erhielt Erasmus Schubert einen Stich in die obere linke Brustseite, welcher die Schlüsselbein-Schlagader zerschnitt. Sofort wimmerte Erasmus Schubert: Au, ich bin gestochen!“ Die Geschichte des 19-jährigen endete gräuslich. Er wankte noch ins Wirtszimmer, „mit dem Rufe 'Helft, Helft', stürzte aber sogleich tot zusammen“.
Gott sei Dank gab es in dieser Zeitung auch Erbauliches. Der RC Franken – auch heute noch eine Institution in der Stadt – lud zu seiner Sommer-Regatta, beim Hauptschießen der Schützengesellschaft Bamberg erstritten einige Schweinfurter respektable Preise und auch das Konzert der Geschwister Clotilde und Adeleide Milanollo – seinerzeit bekannte Violinistinnen – im Konversationssaale zu Bad Kissingen wurde als guter Erfolg gefeiert. „Wir erlauben uns darauf aufmerksam zu machen, dass seit Sonntag im Schaufenster des Möbelmagazins von Karl Schmidt – Spitalstraße – eine von Herrn Photograph Alfred Person in Lohr gefertigte, ganz vortreffliche Aufnahme sämtlicher Insassen des deutschen Reichswaisenhauses zur allgemeinen Ansicht ausgestellt ist.“ Dieser Hinweis datiert vom 21. September 1886. Denn natürlich reichte nur eine Zeitung nicht aus, um den Tapeten Halt an allen Wänden des Garstädter Anwesens zu geben. Der Blick hinter den Wanddekor: Er gewährt interessante Einblicke in die Vergangenheit. Heute sind die Wände glatt, Tapeten halten ohne Zeitungsgrund. Und die Menschen lesen Nachrichten oft auf dem iPad. Schade eigentlich . . .