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Ebrachs Gefängnispfarrer: „München 1972 war so ein Karfreitag für mich“

Gerolzhofen

Ebrachs Gefängnispfarrer: „München 1972 war so ein Karfreitag für mich“

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    Tiefer Einschnitt: Das Attentat bei dem Olympischen Spielen 1972 in München hat dazu geführt, dass Hans Lyer umsattelte und Priester wurde.
    Tiefer Einschnitt: Das Attentat bei dem Olympischen Spielen 1972 in München hat dazu geführt, dass Hans Lyer umsattelte und Priester wurde. Foto: Foto: Norbert Vollmann

    Das Attentat auf die israelische Mannschaft bei der Olympiade 1972 in München sollte zu einem Schlüsselerlebnis in Hans Lyers Leben werden. Der in einem Blutbad endende Terror, der die Welt 21 Stunden lang in Atem hält, führt dazu, dass der damalige Bundeswehrsoldat nach Ableistung seines Wehrdienstes nicht mehr hinter den Postschalter zurückkehrt. Stattdessen hält er inne und wird Priester.

    Diese 21 Stunden, die ihn seitdem nicht mehr losgelassen haben, sind auch ein wesentlicher Grund dafür, dass der Bamberger als katholischer Gefängnispfarrer in Bayerns größter Jugendstrafanstalt in Ebrach gelandet ist. Hier betreut er in der Justizvollzugsanstalt (JVA) mittlerweile seit 1995 auf die schiefe Bahn geratene junge Menschen. Längst ist der „Hans“ in Ebrach zur Institution geworden. Sein Kreuzgang-Atelier-Büro ist eine gefragte Adresse.

    Die Arbeit mit den jungen Strafgefangenen ist gerade durch die Erfahrung, die Hans Lyer 1972 in München gemacht hat, zu seinem Lebensinhalt geworden. Die Rede ist von seinem Einsatz als Priester am Rand der Gesellschaft und auch am Rande der Kirche für ein Leben ohne Gewalt, ohne Schrecken, ohne Terror und ohne Brutalität. Dies im vollen Bewusstsein dessen, wozu Menschen fähig sind und was sie ihren Opfern antun.

    Trotz aller Rückschläge und einer Rückfallquote von über 70 Prozent gibt Hans Lyer nicht auf. Immer wieder versucht er den im „Knast“ gestrandeten jungen Männern dabei zu helfen, in die Gesellschaft und in ein straffreies Leben zurückzufinden. Er bekennt: „Jeder Mensch ist es wert, dass zumindest einer an ihn glaubt. Und wenn es nur einer ist, der es schafft, es ist ein Mensch.“

    Hans Lyer ist selbst nicht den geraden Weg gegangen. Nach dem Hauptschulabschluss tritt er in Bamberg eine Lehre als so genannter Postjungbote an. In den nächsten zweieinhalb Jahren durchläuft er alles, was den Postdienst damals ausmacht. Er sitzt am Schalter, stellt Briefe und Pakete zu, sortiert die Postsendungen und schiebt Nachtdienst. Die Ausbildung schließt er mit der Prüfung zum einfachen Postbeamtendienst ab.

    1971 wird er zur Bundeswehr eingezogen. Als junger Soldat hilft er ein Jahr später bei der Vorbereitung und Durchführung der Olympischen Spiele 1972 von München. Er gehört einer Fernmelde-Einheit an, die in der Zentrale des Organisations-Komitees mitarbeitet. Hans Lyer: „Wir haben die Programme für die Wettkämpfe in die Fernschreiber hineingehämmert und hinaus in die Welt verschickt.“ Zeitungen wie die New York Times und Fernsehsender aus der ganzen Welt geben sich die Klinke in die Hand – mittendrin der aus der oberfränkischen Provinzstadt stammende junge Mann.

    Hans Lyer: „Ich bin in eine völlig andere Welt eingetaucht. Es war ein Traum, dies alles mitzuerleben als ein kleines Rädchen im großen Getriebe der olympischen Ringe.“

    Bei der beeindruckenden Eröffnungsfeier sitzen er und seine Kameraden ein paar Reihen weiter oben seitlich von der Ehrentribüne. Hans Lyer: „Die heiteren Spiele von München begannen und die Athleten zogen unter jazzig verswingten Klängen ein. Für mich lag so etwas wie Frieden und Shalom in der Luft.“

    Seine Mutter war während der Olympiade 1936 unter „Adolf dem Einzigen“, wie Hans Lyer Hitler nennt, in einem Haushalt in Berlin beschäftigt. Dabei ergab sich für sie die Möglichkeit, als Zuschauerin einigen Wettkämpfen beizuwohnen.

    Der Bamberger: „1972 aber präsentierte sich ein völlig anderes Deutschland. Die Nationen sind nicht im Gleichschritt einmarschiert, sondern als singende, feiernde Menge junger Menschen aus der ganzen Welt. Und die olympische Idee, eine Idee des Friedens, hat uns verbunden und vereint.“

    Hans Lyer und seine Kameraden besuchen in der Freizeit verschiedene Sportstätten. So erleben sie die Leichtathletik-Olympiasiege von Heide Rosenthal, Ulrike Meyfahrt und Klaus Wolfermann live mit oder lernen die Begeisterung bei den deutschen Erfolgen draußen an der Ruderstrecke kennen. Sie haben auch Zugang zum Olympischen Dorf. Dort begegnen sie schon vor den Spielen immer wieder Athleten.

    Dann zehn Tage nach der Eröffnung der Keulenschlag. Die heiteren Spiele versinken in Tod und Terror. Am frühen Morgen des 5. September 1972 stürmen acht bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ das Wohnquartier der israelischen Mannschaft. Sie nehmen elf Geiseln.

    Hans Lyer blickt zurück: „Nichts ahnend saßen wir am Morgen wieder in unseren Büros als plötzlich statt der gewohnten Bilder von den Wettkämpfen vermummte Terroristen und das Haus Connollystraße 31 über die Fernseher flimmerten.“

    „Wir leben immer noch jenseits von Eden.“

    Hans Lyer, katholischer Gefängnispfarrer in der JVA Ebrach

    Zu diesem Zeitpunkt sind bereits zwei bei dem Überfall schwer verletzte Israelis tot. Die restlichen neun Geiseln sterben noch am selben Abend beim kläglich gescheiterten Befreiungsversuch auf dem Militärflugplatz in Fürstenfeldbruck. Dorthin hat man Geiselnehmer und Geiseln ausgeflogen. Mit den Israelis kommen fünf der acht Terroristen und ein deutscher Polizist ums Leben.

    Vor allem ein Bild ist es, dass sich tief in Hans Lyers Gedächtnis als „eines der härtesten Bilder, das ich je gesehen habe“, eingegraben hat. Es ist das Bild mit den bei der Trauerfeier auf dem grünen Rasen für die Trauergäste aufgestellten Stuhlreihen, also dort, wo sich noch kurz zuvor die Jugend der Welt im fröhlichen olympischen Wettstreit gemessen hatte. Die Olympische Fahne hängt auf Halbmast. Im Stadion herrscht Totenstille. Dann setzen die Münchner Philharmoniker ein. Mitten hinein in die ohnehin schon bedrückende Stimmung erklingt der Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“.

    Hans Lyer: „Spätestens in diesem Moment brach für mich endgültig eine Welt zusammen und der naive Glaube an eine andere, eine friedliche und bessere Welt.“ Derart brutal aus dem Traum heiterer Spiele herausgerissen, wird dem damals 21-Jährigen klar: „Es gibt keine heile Welt. Wir leben immer noch jenseits von Eden.“

    Hans Lyer: „Wir fielen in eine tiefe Depression und stellten uns aus dieser Depression heraus zunächst Fragen wie: Warum? Was ist da mit uns passiert? Und gleich darauf: Woher kommen Terror, Gewalt und das Böse? Und: Gibt es überhaupt eine Form von Protest, die man dagegen setzen kann? Diese Fragen hat er sich dann später auch in seinem Studium immer wieder gestellt – und daran arbeitet er heute noch, wie er betont.

    Es ist jene Zeit, in der Hans Lyer seine Berufung zum Priester spürt, „im Glauben an einen Gott, der das Ding mit uns noch einmal drehen will.“ Dies ist mit ein wesentlicher Grund dafür, dass er im Rückblick auf 1972 heute sagt: „Im Nachhinein bin ich eigentlich dankbar, in solche Erfahrungen mit hinein genommen worden zu sein und dass ich so ein Tal durchschreiten musste.“

    Die Folge: Hans Lyer sattelt um. Nach dem Wehrdienst geht er nicht zurück zur Post. Stattdessen holt er auf dem Abendgymnasium in Neuß am Rhein sein Abitur nach. Nebenbei jobbt er im Postamt. Er studiert Theologie. 1982 wird er zum Priester geweiht. Über Stationen als Kaplan in Lichtenfels und die Stelle als Leiter im Jugendhaus Burg Feuerstein in Ebermannstadt kommt er schließlich in die JVA nach Ebrach.

    Mehr als 40 Jahre nach den dramatischen Ereignissen von München lautet für ihn bei der täglichen Arbeit mit den jungen Tätern, die häufig gerade erst Terror und brutale Gewalt hinter Gitter gebracht haben, mehr denn je die Frage: „Was gibt es dagegenzusetzen? Welche Wege müssen wir diesbezüglich mit den Menschen gehen?“ „Nur von dort her in der Auseinandersetzung mit der Realität des Bösen ist es möglich, über den Menschen dahingehend etwas erfahren und sagen zu können, was ihn ausmacht zwischen Gut und Böse“, so der Gefängnispfarrer.

    Denn darauf weist Hans Lyer unermüdlich hin: „Wir können nicht nur laut Halleluja singen und schöne Gottesdienste feiern, sondern wir müssen auch die Realitäten wahrnehmen. Die Gefangenen sind Kinder und Teil dieser Gesellschaft, in die sie nach Verbüßung ihrer Strafe zurückkehren.“

    Diesen Menschen in der Haft gerecht zu werden, das kann in den Augen des Pfarrers aber nur funktionieren, wenn sie einerseits nicht nur auf ihr Verbrechen reduziert werden und wenn andererseits darüber zugleich die Schreie der unschuldigen Opfer, denen unsägliches Leid widerfahren ist, nicht überhört werden.

    An diesen Grenzen und Abgründen entlang, müsse sich deshalb Theologie bewegen und auch bewähren. Und diese könne am Karfreitag nicht vorbeigehen, wenn der ans Kreuz geschlagene Jesus seine letzten Worte sagt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

    Hans Lyer bekennt: „München 1972 war so ein Karfreitag für mich. Die Sicherheitskräfte waren hoffnungslos überfordert. Es war nichts zu machen. Und beim Anblick der Bilder am nächsten Tag fühlte man sich wie mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen.“

    Und wieder ist es schlagartig da, das Bild mit den auf dem grünen Rasen für die Trauergäste aufgestellten Stuhlreihen, der auf Halbmast wehenden olympischen Fahne, der Totenstille und den einsetzenden Münchner Philharmonikern.

    In diesem Moment ist 1972 in Hans Lyer die Erkenntnis gereift: „Wir müssen den Konflikt und die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse aktiv und kreativ angehen.“ Und er wiederholt: „Und wenn es nur einer ist, der es schafft, es ist ein Mensch.“

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