„Stellt euch vor, meine Freundin, die Susanne, ist einfach umgefallen und hat sich nicht mehr geregt. Weil wir alle Angst hatten, dass der schwarze Tod wieder ausgebrochen ist, haben wir sie ganz schnell beerdigt. Aber der Totengräber hat gesehen, dass sie einen wertvollen Ring am Finger hatte, und den wollte er stehlen. Deshalb hat er den Sarg noch einmal geöffnet und als er ihr den Ring vom Finger ziehen wollte, da schlug sie die Augen auf und rief: Wo bin ich? Im Leichenhemd ist sie durch die ganze Stadt nach Hause gelaufen, zum Haus des Stadtschreibers, ihres Mannes.“
Anna Dorothea, Ehefrau des Ratsherren Lorenz Göbel, erzählt, was sie Mitte des 16. Jahrhunderts erlebt hat in ihrer Stadt. Gästeführungen mit historischen Persönlichkeiten liegen im Trend, sie werden mehr und mehr nachgefragt und so hat sich Gästeführerin Claudia Helldörfer etwas Neues einfallen lassen. Sie schlüpft in die Rolle der Ratsherrenfrau Anna Dorothea. Nicht alles, was sie erzählt, ist historisch hieb- und stichfest, aber darum geht es ja auch nicht. Es sind die Geschichten, Legenden, Sagen und Erzählungen, die historische Fakten lebendig und erlebbar machen. Und so wird Wissenswertes und Informatives in Menschliches und Zwischenmenschliches verpackt.
Die Geschichte der Stadtschreiberfrau Susanne erzählt Ratsherrenfrau Dorothea auf dem alten Friedhof, auf „den Knochen von 40 000 Schweinfurtern“. Dann geht's ins Gewölbe des ehemaligen Rundturms nahe der Hinrichtungsstätte. Hier wurde im Mittelalter mit einer ganz besonderen „Eisernen Jungfrau“ gefoltert. Dorothea erzählt: „Der Delinquent musste vor der Eisernen Jungfrau niederknien und diese küssen. Wenn er sie aber küsste, schlugen die beiden Schwerter, die am Ende ihrer Arme angebracht waren, zusammen und köpften den Verurteilten. Aber, beruhigt Dorothea: „So grausam sind wir heute nicht mehr.“ Im Jahr 1585 stirbt man am Galgen oder durch das Schwert, ab und zu werde man noch ersäuft, aber eher selten.
Auch das Schicksal des Scharfrichters bewegt die Dorothea. Ein Scharfrichter hatte viel Geld, aber keiner wollte mit ihm zu tun haben, er übte einen so unehrenhaften Beruf aus, dass es ihm schon schwer fiel, überhaupt Paten für seine Kinder zu finden. Eines Tages büxte einer Bäuerin auf dem Markt ein Schwein aus und biss einem Kind das Ohr ab. Daraufhin übergab der Rat der Stadt das Schwein dem Scharfrichter. Der aber erhängte es am Galgen. Was den Rat so erboste, dass er den Scharfrichter samt Familie der Stadt verwies. Aus der Stadt verbannt zu werden, vor allem im Winter, das war lebensbedrohlich, erklärt die Ratsherrenfrau.
Die Frau aus Westfalen
Und dann erzählt Dorothea, dass sie ja erst seit 20 Jahren Schweinfurterin ist. Sie ist die Tochter eines Ratsherrren aus Bielefeld, die die Heirat mit Lorenz Göbel nach Unterfranken verschlagen hat. „Und jetzt ist mein Lorenz auch Ratsherr.“ Was musste sie in der neuen Stadt nicht alles lernen. „Einmal und nie wieder“ ließ sie sich auf eine berühmte Schweinfurter Spezialität ein: Schnickerli. „Also Pansen, das kriegen bei uns in Westfalen die Hunde.“
Bei Schweinfurts ältestem Gebäude, der Johanniskirche, kommt sie ins Schwärmen. „Wir haben da ein gotisches Tor angebaut, das ist modern, die Nürnberger Sebalduskirche hat so eines, das wollten wir auch haben.“ Und dann verrät sie, warum in der beginnenden Neuzeit die Kirchen immer voll waren: „Die Stadtknechte haben genau kontrolliert, ob auch jeder kam. Fernbleiben kostete eine Strafe von 5 Gulden, das ist der Grund, warum wir alle gehen.“
Angesichts des Jahresgehalts eines Handwerkers von etwa 40 Gulden sicher ein guter Grund. Im einzigen Turm der Kirche, „für den zweiten fehlte das Geld“, lebt der Türmer mit seiner Familie: Mann, Frau und 16 Kinder in einem Raum. Die Frau des Türmers war so dick, dass sie nach ihrem Tod an der Außenmauer des Turms heruntergelassen werden musste, bevor man sie in einen Sarg legen konnte, erzählt Dorothea.
Eingebettet in diese Geschichten gab es bei der kurzweiligen Führung immer wieder Historisches aus der Zeit vor dem zweiten Stadtverderben. Berühmte Schweinfurter lernte man kennen, wie Olympia Morata oder den Magister Sutelius. Man erfuhr, dass es für die Schweinfurter gar nicht so einfach war, evangelisch zu werden, und, wie die Ebracher Mönche ihr Recht einklagten, in der Stadt sesshaft bleiben zu dürfen.