Die zwei Geschichtsstunden mit Anja Gareiß-Castritius vergehen wie im Flug. „Untergang und Wiederaufbau“ heißt die Tour durch die Altstadt. Es ist, weil viel von Zerstörung, Entbehrung, ja Tod die Rede ist, ein trauriges Thema. Die Gästeführerin streut aber so viele Anekdoten ein, die trotz allem ein Schmunzeln unvermeidbar machen. Und sie hat Fakten recherchiert, die nicht nur dem Reporter, sondern auch anderen „Alten Schweinfurtern“ unbekannt waren.
Seit vier Jahren zählt Gareiß-Castritius zur Riege der Gästeführer. Die Gegenüberstellung vom stark zerstörten Schweinfurt mit dem Heute, eben Untergang und Wiederaufbau, war ihre Idee. Vor vielen Gebäuden, die nach dem Krieg entstanden sind, zieht sie die Geschichte in Gestalt historischer Bilder und nach Luftangriffen geschossene Fotos aus ihrer Tasche. Der rote Faden der Führung.
Start am Rückert-Denkmal
Am Rückert-Denkmal geht es für das Dutzend Interessierte los – bei Sonnenschein, muss Gareiß-Castritius anmerken, weil es bei ihren Führungen eher regnet. 53 Prozent aller Kugellager in Deutschland wurden in Schweinfurt produziert, was der Grund für das Interesse der Alliierten an Schweinfurt war. „Der Luftkrieg war für Schweinfurt ganz katastrophal“, fasst sie zusammen.
Erster Angriff am 17. August 1943, als Double Strike bekannt geworden, weil auch die Messerschmitt-Werke Regensburg Ziel waren. Der Angriff der 140 Bomber habe Schweinfurt „völlig überrascht“, ging allerdings aus Sicht der Angreifer grandios daneben, weil sie das Hauptziel, die Kugellager-Industrieanlagen, großteils verfehlten. Es wurde dennoch viel von Schweinfurt zerstört, der Bereich Sachs-Stadion, das Kasernengelände und das jetzige Areal der Stadtwerke.
60 Bomber abgeschossen
Beim zweiten Angriff am 14. Oktober 1943 treffen die Amerikaner und Engländer dann zwar die Industrie. Gleichwohl ging dieser Angriff als „Black Thursday" in die Geschichte ein, da über 60 Bomber von der Flak abgeschossen wurden. Die war wegen des 17. August 1943 auf- und ausgebaut worden.
Die Gästeführerin zeigt Fotos von den Luftangriffen, von zerstörten und deshalb nicht mehr vorhandenen Häusern am Markt, dem Café Schneider (heute Ulla Popken) etwa. Oder die Häuserzeile an der Stelle des 1959 erbauten Neuen Rathauses. In der Spitalstraße, damals Adolf-Hitler-Straße, stand das Sandrock-Haus (heute Müller-Markt), die älteren nicken beim Anblick des Kroneneck (heute Commerzbank).
Pfarrer, Küster und einige Kirchgänger löschten Heilig Geist
Am Albrecht–Dürer-Platz stand das Gasthaus Goldener Löwe (derzeit leer, vorher Dresdner Bank). Heilig Geist blieb mit einer Bombe fast verschont, der Pfarrer, der Küster und einige Kirchgänger löschten das Feuer. Wir schauen auf die heutige Musikschule (seit 1989), die schon vieles war: Militärkapelle, Steinwegschule und nach dem Wiederaufbau Polizeistation.
Gareiß-Castritius' Vater hatte die Oberschule (heute Rückert-Schule) besucht. Aus Sicherheitsgründen wurden die Schüler in Bad Kissingen unterrichtet. Auf der Zugfahrt dorthin gab es einen Luftangriff, den ein Mitschüler bei der Flucht über die Felder nicht überlebte. Ganz still hören alle Teilnehmer zu. Am Schillerplatz die nächste, kaum zu glaubende, aber wahre Geschichte. Das VKF-Werk, später SKF, heute Stadtgalerie, wurde damals schwer getroffen. Auf der Liste der toten Mitarbeiter stand auch eine junge Frau. Die hatte aber überlebt, war nur in Panik nach Hause gerannt, was im Werk aber zunächst niemand wusste.
Die Gästeführerin zeigt an der Kunsthalle Bilder des zerstörten Sachs-Hallenbades, berichtet – Wiederaufbau! – über die Geschichte des Amerika-Hauses, das dort in den Arkaden ab 1951 (bis 1956) dazu beitragen sollte, aus den Deutschen Demokraten zu machen.
Am Spitalseebunker erzählt die Gästeführerin über den Saalbau, der am heutigen Standort des Theaters stand. Hitler hielt dort Mal eine Rede und – wurde ausgebuht. Auf Schweinfurt sei der große Führer deshalb und wegen eines weiteren Vorfalls am Obertor nicht gut zu sprechen gewesen.
Viele Infos zum Thema Bunker
Es folgt viel Information über das Thema Bunker. 1942 bis 1944 wurden diese Schutzbauten im Rahmen des „Führer-Luftschutz-Sofortprogramms“ erstellt, in Schweinfurt wegen der Gefährdungen durch die Kugellager-Industrie deren zehn. Der Spitalseebunker war für 1500 Menschen angelegt, der größte. Aber er war während der schwersten Luftangriffe auf Schweinfurt 1943 noch gar nicht fertiggestellt. Wer wo in den Bunker durfte, war geregelt, die Einwohner hatten Ausweise, ein Bunkerwart ließ sie ein. Ausgeschlossen waren Ausländer, Juden (soweit noch in der Stadt) und Zwangsarbeiter. Aber nicht überall. Im Erdstollen im Untergrund der Lehmgrube zwischen Galgenleite und Altem Wartweg in der Gartenstadt war das anders. Die Nachricht ist eine kleine Sensation.
Erdbunker für rund 300 Schutzsuchende
Die Gästeführerin hat eine ausführliche Schilderung („Vom Luftschutz in Schweinfurt“) dieser und weiterer Erdstollen-Arbeiten von Ferdinand Haagen ausgegraben, die der damalige Stadtschulrat 1954 fertigte. Ausführlich beschreibt er darin den Stollenbau in der Lehmgrube. Auch belgische, italienische und sogar russische Kriegsgefangene haben freiwillig mitgeholfen, hat Haagen notiert. Der Lohn: Sie fanden bei Luftangriffen in dem 300 Personen fassenden Stollen Schutz, der bis zu 12,50 Meter in die Tiefe ging und drei Zu- und Ausgänge hatte.
Der Großvater der Gästeführerin, Emil Castritius war beim Bau ab September 1943 federführend dabei. Ihre Großmutter Marga Castritius kümmerte sich um die Verpflegung der Stollenbauer. Die Lebensmittel haben Anwohner bereitgestellt, gekocht wurde in Waschbottichen.
Haagen hebt in seiner Schilderung vor allem den Hauptlehrer Emil Castritius heraus, „einer von denen, die den Stollen geplant und als erste mit dem Bau begannen“. Er habe sich um so mehr eingesetzt, als viele andere Männer Schweinfurt verlassen mussten, um die Wehrmacht zu stärken, aber Castritius sei dem Stollenbau verhaftet geblieben. „Wir fühlten uns sicher in unserem Stollen“, ist Autor Haagen zitiert, der erinnert, dass der Stollen vor allem beim legendären Dreifachangriff am 24./25. Februar 1944 viele Menschenleben rettete.
Vor Sankt Johannis endet die Führung. Anja Gareiß-Castritius steht vor der herrlichen Sankt Johanniskirche, zeigt Fotos von den damaligen Zerstörungen – eben Untergang und Wiederaufbau. Die Führung können Kleingruppen buchen. 2018 wird sie wieder im Tourismus-Programm angeboten.