Eine Blume die spricht. Ein ulkiges Männchen, das auf einem Zollstock Saxophon spielt. Bunte Riesen mit endlos langen Beinen, die seltsame Sachen sagen. Eine hünenhafte Drachenführerin nebst Drache, zu dessen grässlichem Antlitz eine rote Leiter empor führt. Nichts Besonderes für Alice. Das kennt sie aus dem Wunderland. Aber Marie nicht. Sie kann nach dem Sparkassen-Familientag des Internatonalen Varieté-Festivals lange nicht einschlafen. Zu viele neue Eindrücke aus einer verwunschenen Welt spuken durch ihren kleinen Kopf. Erlebnisse, für die die Fünfjährige noch keine Worte hat.
Brrrrr. Bibber. Worte aus einer anderen Nebenwelt; des Comics. Ausgerechnet der mutmaßlich kälteste und nasseste Maitag 2012 bildet den Rahmen für den vierstündigen Kindertraum. Statt „dezentraler Aktionen und Shows auf dem Festivalgelände“ – wie im Programmheft angekündigt – verkriechen sich Künstler und Kinder unter der mächtigen Kuppel des Showzelts. Es ist stickig, eng, passt irgendwie aber zur seltsamen Mischung aus Traumwelt und Realität in diesem abgeschlossenen Kosmos. Kinder üben am Trapez, lassen das Diabolo übers Seil sausen, balancieren auf der Slackline; Gesichter werden bemalt, Arme mit Glitzertattoos verschönt, in kurzen Regenpausen wagen venezianische Gondolieri einen Ausflug ins Freie. Wasser wäre genug da; aber ihre Gondeln rollen.
Alles kann, nichts muss
Marie ist dran; sie hat sich tapfer eine Viertelstunde lang angestellt und blickt nun die rote Leiter hinauf, an deren Ende der blauäugige Drache sein Maul aufsperrt. Eben noch große Klappe, jetzt weiche Knie. Bei der dritten Stufe ist Schluss. Drachenstreicheln fällt aus. Andere Kinder lassen sich das nicht entgehen. Marie handelt nach dem Motto des Tages: Alles kann, nichts muss.
Nach zweistündigem Wirrwarr ist aufräumen angesagt. Ein Mann im weißen Anzug versucht, das Chaos zu ordnen. „Wir haben überverkauft“, sagt Dirk Denzer, Macher des Varieté-Festivals und Kinderkümmerer an diesem Tag. „Ohne Erwachsene wäre jetzt alles einfacher“, sagt er auch. Die haben die Spielezeit genutzt, um nach alter deutscher Sitte Handtücher auszubreiten. Die Handtücher sind Jacken und Taschen und sie reservieren keine Strandliegen, sondern die Plätze auf der Stahlrohrtribüne. Alles belegt – über 1000 Leute übrig. Bierbänke werden hereingetragen, direkt vor der Bühne aufgestellt. Heute sind die letzten die ersten und bekommen Plätze in der vordersten Reihe.
Marie führt das System zur Vollendung. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass man ganz vorne eben doch besser sieht. Zusammen mit einem Knäuel anderer Kinder entert sie die Treppenstufen zur Bühne. Rollschuhakrobatik, Jonglage, Einrad-Kunst unmittelbar vor ihrer Nase. So ist man der Welt der Wunder noch viel näher. Die Show am Familientage: eine vollwertige Varieté-Vorstellung. Zwei Stunden lang. Zum schmalen Preis von gerade mal 15 Euro, weshalb wohl nicht nur Familien da waren, sondern auch Varieté-Schnäppchenjäger.
Sie sahen mit dem Trapezduo Rose, dem irren Rollschuh-Jongleur TJ Wheels, den Kontorsionistinnen des Duo Angels, dem Strapaten Oleg Chudan und dem rollenden italienischen Artistik-Trio Giurintano Highlights aus der hoch gelobten Eröffnungsshow. Und sie erlebten einen wunderbaren Clown Raluti, der bei seiner Seiltanznummer die halbe erste Reihe einspannte und sich die Lacher doch nicht auf Kosten der unfreiwilligen Komparsen abholte. Kunstradfahrer David Schnabel drehte Bühnenrunden stehend auf dem Lenkrad, als würde er sein Velo voltigieren. Zwei Stöpsel und ihre Papa begeisterten als „Zirkus Lauenburger“ mit kleinen, aber feinen Akrobatiknummern. Und dann hat Marie auch den Mann mit dem Zollstock wieder getroffen, der plötzlich auch Einrad fahren konnte und mit seinen grotesken Harlekinaden den Rattenfänger gab: Plötzlich waren die Kinder von der Bühnentreppe nicht mehr Zuschauer, sondern mittendrin, in der absurden Show.
Es klimpert in der Spendenbox
Finale. Die Helden des Vorabends als Schattengestalten hinterm Vorhang. Ein erschöpfter aber glücklicher Dirk Denzer, der – in Anlehnung an das Tagesmotto „Wir sind Kinder einer Welt“ – für ein Charity-Projekt in Indien wirbt. Am Ausgang steht die große Spendenbox. Es klimpert, manchmal raschelt es auch. Aber die „Big Spender“ sind beim Familientag kaum anzutreffen. Denzer will das Konzept beim nächsten Mal überdenken: „Diese Show zu dem von der Sparkasse subventionierten Preis sollte wirklich nur für Mama, Papa, Kinder sein.“
Marie hat große Augen. Und das dringende Bedürfnis, sich zu bewegen. Draußen, vor dem Zelt, tollt sie herum in der Sennfelder Freizeitanlage – mit all' den anderen Kindern, die wie sie stundenlang ausgeharrt haben, still saßen, sich einfangen ließen von der Magie des Varieté. Nach dem Sommer kommt sie in die Vorschule. Die Kindergartenleiterin will noch einmal mit ihren Eltern, sprechen. Marie ist so fahrig, unkonzentriert, zappelig. Vielleicht ein Erziehungsproblem. Vielleicht aber auch nur eine Frage, wie man Inhalte attraktiv verpackt und Kinder in seinen Bann zieht.
Zusatzvorstellung
Wegen des großen Erfolgs des 4. Internationalen Varieté-Festivals – alle Vorstellungen sind ausverkauft – findet an Muttertag, 13. Mai, eine Zusatzvorstellung statt. Kartenvorverkauf in Schweinfurt bei der Tourist-Information 360° im Rathaus, Tel. (0 97 21) 51 36 0-0 und der Geschäftsstelle des Schweinfurter Tagblatts, Schultesstraße 19a, sowie allen Geschäftsstellen der Main-Post, Tickethotline Tel. (0 18 01) 052 052. Preise: Tickets gibt es je nach Kategorie für 34,- €/ 44,- €/ 58,- €. Gezeigt wird ab 14.30 Uhr noch einmal die Abschlussgala des Vorabends, die bereits wenige Wochen nach Vorverkaufsstart noch vor Weihnachten vergangenen Jahres ausverkauft war.