In der Welt des Theaters gibt es immer wieder Querverbindungen, die die Vorfreude auf eine bestimmte Aufführung steigern. So war es auch am Wochenende bei dem mit Beifallsstürmen gefeierten Gastspiel des "Ballett Dortmund" mit "Alice" von Mauro Bigonzetti.
Vor drei Jahren erlebten wir mit "Alice" ein Psychogramm des britischen Autors Lewis Carroll (eigentlich Charles Dodgson) von Tom Waits und Robert Wilson. Dodgson ist besessen von jungen Mädchen zwischen zehn und elf Jahren, die er auch fotografiert, von der jungen Alice Liddell ist er besonders fasziniert. Um sie an sich zu binden, erzählt er ihr fantastische Geschichten: Von skurrilen Gestalten, von einem verrückten Hutmacher, bei dem immer Teestunde ist oder von einer Wasserpfeife rauchenden Raupe. Veröffentlicht werden die Erzählungen zu Welterfolgen.
Ein Stoff für das Tanztheater. Mauro Bigonzetti, italienischer Ausnahme-Choreograf und langjähriger Leiter der auch in Schweinfurt hoch geschätzten Compagnia Aterballetto, feierte 2014 mit der Stuttgarter Gauthier Dance Company (kürzlich im Schweinfurter Theater) die Premiere seiner Version von "Alice" nach Carrolls "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln". Nun präsentierte das Ballett Dortmund Bigonzettis bunt schillernde Choreografie, Alices Reise durch Fantasy-Welten.
Aber Bigonzetti geht es nicht nur um das Fantastische, er betont auch das Beunruhigende, das Gefährliche in dem Stoff, das Wechselspiel zwischen Realität und Traum. "Es ist die Vorstellungskraft, die uns Menschen frei macht. Frei, unsere Größe und Gestalt zu wechseln. Frei, unsere Ängste und Fantasien durchzuspielen", erklärt Bigonzetti sein Konzept.
Kontrastreiche Szenen
Vorstellungskraft wird auch von den Zuschauern gefordert: Die kleine und große Alice, die böse Königin, das Kaninchen, Katze und Kater, der Hutmacher oder die mit einem Zopf verbundenen Zwillinge sind zwar gut zu identifizieren, aber es gibt keinen Handlungsstrang: Bigonzetti überrascht dafür mit einer spannenden Abfolge ineinander fließenden kontrastreichen Szenen zwischen Traum und Albtraum, die einmal mehr den Ideenreichtum des Choreografen beweisen.
Und das profilierte 16-köpfige Ballett Dortmund erfüllt Bigonzettis Vorgaben mit pulsierender Power, Tanzlust und Lebensfreude: Mit spektakulären Bewegungen, großartigen Tableaus oder expressiven Pas de deux. Zu der Geschichte aus dem viktorianischen England wählt er eigens für "Alice" komponierte Musik im Stil italienischer Kinder- und Volkslieder. Antongiulio Galeandro (Akkordeon und Flöten) und vor allem der kehlige, manchmal fast monoton-hypnotische a cappella-Gesang eines italienischen Damen-Quartetts verstärken den geheimnisvollen Grundton des Abends.
Alice kommt aus dem Staunen nicht heraus. Zu den Klängen einer Spieluhr tragen Tänzer ihre Partnerinnen wie Schaufensterpuppen auf die Bühne, die dann mit ruckartigen Bewegungen zum Leben erwachen. Geschmeidig dagegen das virtuose Pas de deux von Katze und Kater oder das Solo des Kaninchens. Bizarr die Teezeremonie bei der kahlen Königin, in der die Hofgesellschaft in einem Kreis am Boden tanzt.
Das Publikum ist gefangen von immer neuen Bildern und Stimmungen. Mit Harfenklängen klingt das Traumspiel poetisch aus. Beifallstürme und stehende Ovationen für die Gäste aus Dortmund, für einen würdigen Abschluss der Tanzsaison.