"Da waren sechs Geschütze gestanden". Die ältere Frau deutet auf ein Feld, in dem das grüne Getreide wadenhoch steht. Sie ist eine von etwa hundert Sonntags-Spaziergängern, die entweder selbst dabei waren oder aus erster Hand wissen wollen, wie das damals war. Damals, als in Euerbach Krieg war. Als Bomben fielen, Häuser zerstört wurden, Menschen starben. Als südlich des Dorfes zwei Stützpunkte mit Fliegerabwehrkanonen standen, die zum Flak-Gürtel um die Stadt Schweinfurt zu deren Verteidigung zählten, als die Nachrichtenstellung "Wildschwein" von Euerbach aus den gesamten süddeutschen Luftraum überwachte.
"Die objektive Geschichte mit den subjektiven Geschichten Einzelner zu beleuchten" ist das Ziel, wie Johannes Krüger eingangs erklärt. Er ist jung, er kann fast wissenschaftlich an das Thema herangehen. Er hat den zweistündigen Rundgang vorbereitet, strukturiert, und moderiert die Aussagen der Älteren.
Am Getreidefeld übernimmt Altbürgermeister Willi Zirkel das Mikro. Es ist der Standort der dritten Batterie. "Hautnah" war er dabei, als damals 14-Jähriger, erzählt er nüchtern. 1943 wurde diese Flak-Stellung aufgebaut. Sein Vater hatte mit dem Pferdefuhrwerk die Verpflegung für die Mannschaft zu holen, der junge Willi war oft dabei.
Im Getreideacker markieren Pflöcke mit weißen Tüten den Standort der sechs Geschütze. Kreisrund standen da die "acht Komma acht Flaks", benannt nach dem Alphabet Anton, Berta, Cäsar, Dora, Emil und Frieda, erklärt Zirkel. Horst Spiegel hält ein großes Foto eines 8,8 Zentimeter Geschützes hoch, damit jeder die Dimension sehen kann.
Markierung mit Kleeböcken
Eigens aufgestellte Kleeböcke zeigen im Acker den Standort der Baracken, den Speiseraum, hintendran die Küche, den Unterrichtsraum und quer dazu die Schlafräume. Ein großes Gelände, bis in den unschuldig gelb blühenden Rapsacker nebenan, Platz für eine Batterie mit 120 bis 150 Personen.
"Ich war hier oben als die Amis kamen", sagt Willi Zirkel und seine Stimme wirkt angestrengter, als er von den Ereignissen des 8. April 1945, dem Weißen Sonntag, erzählt. "Der Spies sagte noch, Junge, es wird Zeit, dass du heim gehst, gleich rappelts hier. Der hatte in der Schneise zwischen Obbach und Sömmersdorf die amerikanischen Panzer gesehen." Der Junge folgte, war unten am Ortseingang noch dem einheimischen Bauern und Sanitäter Rudolf Weigand mit seinem Wasserfass auf dem Kuhwagen begegnet, und warnte ihn. Doch der meinte, das Wasser unbedingt hoch bringen zu müssen.
Das Mikro wandert zu Herbert Weigand. Er hatte als Sechsjähriger wie seine zehn- und zwölfjährigen Brüder sowie ein Freund den Vater bei diesem Wassertransport begleitet. Bei dem das Feuer der angreifenden Flugzeuge seinem Bruder Arm und Beine wegrissen, der Vater einen Armdurchschuss erlitt und er selbst am Auge verletzt wurde, so dass er heute darauf blind ist. Aber das kann er in der großen Runde nicht erzählen. "Der Vater sagte, da oben, die Flieger, verjagt die mal", bringt er nur hervor. Und dass der Vater den Bruder heimgetragen hat, der dann verbluten musste. Die Stimme ist brüchig, versagt schließlich. "Ich muss immer heulen, mein Bruder war erst zehn", entschuldigt er sich. "Krieg ist halt schlimm."
Ahnung des Schrecklichen
Ganz still ist es geworden, eine Ahnung, wie schrecklich die Zeit damals war, was sie bei den Menschen hinterließ, erfasst die Jüngeren, manche Ältere wirken betreten, wenden sich ab, gehen auf den Feldwegen zwischen wachsendem Weizen weiter.
Unterwegs sammeln sich immer wieder Interessierte um Karl Zoll, der ständig in großer Lautstärke über viele Details erzählt. Als müsste er unbedingt alles los werden, was er als 14-Jähriger erlebt oder später gehört hat. In Händen hält der schwere Mann Luftbilder eines englischen Aufklärers von Euerbach aus dem Jahre 1945.
30 mal 35 Meter groß sei hier das Auswertungszentrum für die zwei Batterien gewesen, weist er auf einen Acker. Da konnte festgestellt werden, wie hoch die feindlichen Flugzeuge flogen und wie der Zünder bei der Flak eingestellt werden musste. Und im Unterstand hätten auch manche Soldaten geschlafen.
Ja, bereits am 6. April seien Granaten in die Batterie eingeschlagen, mehrere Soldaten seien umgekommen, ergänzt Wilhelm Böhm. Der Vorsitzende des Historischen Vereins Schweinfurt hat ein Buch über die Eroberung von Stadt und Landkreis Schweinfurt durch die US-Armee verfasst.
Ehemaliger Flugplatz
Auf der Höhe angelangt sieht man in der Ferne jetzt den ehemaligen Flugplatz bei Geldersheim, die heutigen Conn-Baracks. 1936 wurde er eröffnet, den ganzen Krieg über wurden dort Piloten an der JU 87 geschult, erzählt Rudolf Winkler. "Die sind auf 3000 Meter rauf und dann mit einem Geheule nach unten gestürzt, das war schlimm", erinnert er sich an den Lärm. Hier auf der Höhe war auch die zweite schwere Batterie bei Euerbach, die fünfte, stationiert.
Der Zug der Spurensucher sichtet unweit des Bauschuttplatzes die Fundamente des "Freya-Geräts". Gemeinsam mit den beiden "Würzburger Riesen" in der Nähe, 15 Meter hoch, wurden in damals hochmoderner Technik und streng geheim feindliche Flugzeuge geortet, um sie den deutschen Nachtjägern zuzuführen. Die anfliegenden Geschwader konnten bereits über dem Ärmelkanal erkannt und gemeldet werden. Zuständig war die Euerbacher Nachrichtenstellung für den gesamten süddeutschen Raum.
Die Besatzung dazu, mehrere hundert Männer und Frauen, war im Lager "Wildschwein" untergebracht. Wieder lassen hier Kleeböcke und Pfosten in Feldern die Lage und Größe der Stellung deutlich werden.
Männerfantasien
Edgar Hehn entlockt den Zuhörern Gelächter, als er erzählt, die Mädchen dort hätten es auf die Männer abgesehen. Was von manchem Älteren allerdings kopfschüttelnd als "Männerfantasien" abgetan wird. Hehn weiß jedenfalls zu erzählen, eine Nachrichtenhelferin habe ihm eines Tages entsetzt berichtet, dass die Briten ihrem modernen Radargerät auf die Schliche gekommen seien: Sie hätten zig Staniolstreifen vom Flugzeug abgeworfen, so dass Messungen nicht mehr möglich waren.
Am Ortseingang Richtung Sömmersdorf sammeln sich die Spurensucher noch einmal. Hier kamen am Abend des 8. April 1945 die amerikanischen Panzer ins Dorf. Der erste wurde von einem deutschen Feldwebel mit der Panzerfaust zerstört, was dieser auf grausame Weise mit dem Leben bezahlte. Karl Zoll erzählt wieder, viele Geschichten vom glühenden Panzer, von dem Grab, das er mit schaufeln musste, vom Keller, in dem er sich verkroch, und von dem ersten Neger, den er sah. "Ich könnt' ein ganzes Buch schreib'", sagt er. Das Panzerrad hatte er mit heim genommen. Jetzt zeigt er es den Neugierigen, auch eine Kartusche hat er dabei.
Der Rundgang endet am Friedhof nebenan. Die Spaziergänger stehen vor den Gräbern der Soldaten und der Dorfbevölkerung. Johannes Krüger hat einen Ortsplan mit Kreuzen gekennzeichnet, in vielen Häusern wurde getrauert um Tote und Vermisste.
Die Heimgehenden haben sich noch immer viel zu erzählen. Das Thema Krieg rüttelt Erinnerungen und Emotionen wach, die Sprachlosigkeit über schlimme Vorfälle wird kleiner. Vielleicht ist ein angedachtes "Erzählcafe" im Herbst für manchen Zeitzeugen eine Gelegenheit, die Ereignisse zu benennen und zu verarbeiten.