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Hitler öffnet Rodins Höllentor

Stadtkultur Schweinfurt

Hitler öffnet Rodins Höllentor

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    „Balzac rettet die Fürstin de Lamballe für seine Geschichten“.Unten: Bongrand, Mazel und Co., nach Emile Zola, L'OEuvre, 2007.
    „Balzac rettet die Fürstin de Lamballe für seine Geschichten“.Unten: Bongrand, Mazel und Co., nach Emile Zola, L'OEuvre, 2007. Foto: Foto Dieter Bodenhausen

    Wo also anfangen, wo enden, da doch Jochen Stücke selbst diese Stadt kaum überblickt, die sein Lebensthema ist. „Ich gehe durch Bilder, Texte, Straßen, Jahre und komme nicht an. Sage ich Balzac, muss ich auch Rodin sagen, sage ich Rodin, ist Zola zur Stelle. Diese Stadt ist immerwährende Fortsetzung, ohne Geschichte, in endloser Gegenwart.“ Diese Stadt ist Paris, was sonst, und wie sehr sie den 1962 in Münster geborenen Jochen Stücke gepackt hat, zeigt dieser Satz, mit dem er den Leser der Publikation „Paris, Album I“ einstimmt und gleichzeitig vorwarnt, damit dieser sich Zeit nehme für all die Zeichnungen, Geschichten, Zitate und kleinen Anmerkungen. Das gilt im Besonderen auch für die gleichnamige Ausstellung im Museum Otto Schäfer, die bis 28. November zu sehen ist.

    Stücke ist 17, als er das erste Mal Paris besucht und hingerissen ist von der Kunst im Louvre. Fortan reist er mindestens einmal im Jahr in die Stadt, schaut sich in den 1980ern die großen Ausstellungen im Grand und Petit Palais an. Später merkt er, dass dieses Sehen für seine Entwicklung als Künstler so wichtig war wie sein Studium im Fach Design, bei dem er sich schnell aufs Zeichnen konzentriert. Stücke ist Zeichner geblieben und hat es darin zu großer Meisterschaft gebracht, die sich gerade in den skizzenhaft-fragmentarischen Blättern zeigt. Das „fertige Bild“ interessiert ihn weniger, eher will er Momente einfangen oder Ideen, die ihm beim Lesen all der großen französischen Schriftsteller kommen.

    Lesen ist die andere Leidenschaft seines Lebens, und wie stark ihn beide beanspruchen, zeigt sein Satz „Wenn ich lese, kann ich nicht zeichnen und umgekehrt“. Als er in der Biografie von Balzac las, wie jener auf einer Seine-Brücke stand und überlegte, ins Wasser zu gehen, fiel ihm Paul Celan ein, der das 1970 getan hat, und er entwarf eine Skizze, wie die beiden nebeneinander auf der Brücke stehen. Für solche Skizzen und Gedanken hat Stücke seit 2004 große schwarz gebundene Zeichenbücher, in die er mit Sepia-Tinte und Feder hineinschreibt und zeichnet, was ihm in den Sinn kommt. Fünf dieser Bände gibt es derzeit, genannt das „Pariser Album“ – ein Projekt, das vielleicht nie abgeschlossen sein wird.

    Denn zu viel gibt es noch zu erforschen in den Sedimenten der Pariser Stadtgeschichte, die Stücke durchstößt auf der Suche nach Verbindungen, die er denn auch in überreichem Maße findet. Nachdem ihn lange vor allem das 19. Jahrhundert interessiert hat, ist er 2008, bei einem dreimonatigen Forschungsaufenthalt, ins 18. Jahrhundert vorgedrungen, in die vorrevolutionäre Zeit.

    Dank seiner Leseleidenschaft hat Stücke viel Wissen angesammelt, von den großen geschichtlichen Zusammenhängen bis zu den kleinen Geschichten, aus denen er dann eigene fiktive entwickelt. So lässt er – nachdem er Balzacs Haus mit dem Hintereingang gesehen hat – den Schriftsteller die Fürstin de Lamballe retten, obwohl sie zu dessen Lebzeiten schon tot war. Sie wurde 1792, also sieben Jahre vor Balzacs Geburt, ermordet. Stücke lässt sie retten, weil er sie für eine seiner Geschichten braucht.

    Um die Figuren aus ihrer historischen Unnahbarkeit zu holen, geht er manchmal sehr weit, freilich mit Respekt und immer im Bewusstsein, dass es nicht genügt, nur aus Jux Zeugen der Zeitgeschichte zu vereinen. Beispiel „Hitler öffnet im Juni 1940 Rodins Höllentor“. 1940 fuhr Hitler durch Paris, nachdem es von den deutschen Truppen besetzt war. Auf Stückes Zeichnung sieht man nur eine Hand, die quasi von innen das Tor öffnet, das sich in Wirklichkeit gar nicht öffnen lässt. Der 1926 nach Rodins Tod ausgeführte Bronzeguss ist eine Skulptur, kein Tor. Hitler steht im Dunkel, und es scheint, als ob es ihm nicht gelänge, ins Helle zu gehen.

    Manchmal erzählt Stücke Geschichten bekannter Maler und Schriftsteller weiter. So serviert er den Protagonisten aus Delacroix' Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ (1830) erst einmal ein Frühstück, bevor sie zu Revolutionären werden. Felix Krull, Thomas Manns berühmten Hochstapler, lässt er für einen Augenblick vor der Türe stehen, bevor er sich in die vornehme Pariser Gesellschaft begibt.

    Auf die Frage, wie sehr ihn das Paris von heute interessiere, muss Jochen Stücke kurz überlegen, bevor er antwortet, dass er Aktuelles schon registriere und durchaus Verbindungen zeige, beispielsweise zwischen den Barrikadenbauern der französischen Revolution und denen von heute.

    Dem Pariser Publikum hat die Ausstellung übrigens gut gefallen. „Die Pariser sind offen und humorvoll“, sagte Stücke, „das Leichte, das Spielerisch-Ironische in den Zeichnungen liegt ihnen“. Außerdem war die Werkschau vor Schweinfurt in Herford, Papenburg, Wien, Berlin, Troisdorf und Tustin (Kalifornien) zu sehen. Bliebe noch zu erwähnen, dass das Werk von Emile Zola eine große Rolle spielt. Teile des gleichnamigen Zyklus sind in der Ausstellung zu sehen, die neben Zeichnungen auch Druckgrafik zeigt.

    Jochen Stücke, „Paris, Album I, 2004–2008“, bis 28. November im Museum Otto Schäfer (in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein Schweinfurt).

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