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OBERSPIESHEIM: Im Frankenland gestrandet

OBERSPIESHEIM

Im Frankenland gestrandet

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    Kriegsdienst: Eva-Maria Pretscher als junge Flakwaffenhelferin.
    Kriegsdienst: Eva-Maria Pretscher als junge Flakwaffenhelferin.

    Die Sprache lässt die Herkunft von Eva-Maria Pretscher noch erahnen. Dazu das im Schrank stehende Danziger Goldwasser, dieser klare und würzig-süße Likör, in dem kleine Blattgoldflocken herumschwimmen. Aber wenn man der heute 91-Jährigen einst gesagt hätte, dass sie das Mädchen aus der Stadt an der Ostsee durch ihren „Kriegshilfsdienst als Flakwaffenhelferin“, wie es offiziell hieß, fern der westpreußischen Heimat in der unterfränkischen Provinz landen und hier Bäuerin mit Leib und Seele werden würde, hätte sie sich das wohl nie im Leben vorstellen können.

    Aber sie beißt sich durch. So macht ihr, die vor dem Kriegseinsatz in der Lehrabteilung auf der Schiffswerft in Danzig gearbeitet hatte, bald keiner mehr etwas auf dem Hof vor und schon gar nicht in Sachen Kälberaufzucht. 1950 holt sie, die Städterin, beim Kreis-Leistungsmelken anlässlich eines Viehhaltungs- und Melkkurses 1950 in Sulzheim den zweiten Preis. Die aufbewahrte Urkunde des Bayerischen Landwirtschaftsministeriums ist der Beweis.

    Nach dem Besuch von Volks-, Oberschule und privater Handelsschule wird Eva-Maria Lewandowski, wie sie damals noch heißt, 1941 zum Reichsarbeitsdienst in der oberhalb an der Ostseeküste gelegenen Stadt Elbing eingezogen. Nachdem sie zwischenzeitlich auf der Werft in Danzig im Büro gearbeitet hatte, folgt 1942 die Einberufung des damals 19-jährigen Mädchens als Luftwaffenhelferin zur Wehrmacht.

    Über Greifswald in Pommern geht es bald zur Ausbildung als so genannte Nachtseherin in die Flakscheinwerfer-Kaserne nach Mannheim-Käfertal. Hier lernte sie die eigenen deutschen sowie feindlichen Flugzeuge mithilfe von Nachtoptik-Geräten am Nachthimmel zu erkennen und zu unterscheiden.

    Hitlers Kriegsglück hat sich längst gewendet, da erhält die junge Luftwaffenhelferin ein Telegramm des ihr von den Eltern in Danzig zugedachten Mannes. Er hatte als vermisst gegolten und nach der glücklichen Rückkehr zu seiner Einheit Sonderurlaub bekommen. Das Problem ist, dass seine für ihn auserkorene „Künftige“ ausgerechnet jetzt hohes Fieber hat. Auf eigene Verantwortung tritt sie den Kurzurlaub an.

    Todkrank, aber glücklich trifft sie bei den Eltern in Danzig ein, um sich mit „ihrem“ Gustav zu treffen. Es sollte das letzte Wiedersehen mit ihrer alten Heimatstadt sein. Als sie schweren Herzens nach Mannheim zurückkehrt, muss sie feststellen, dass alle anderen jungen Frauen, mit denen sie ausgebildet worden war, schon weg sind. Sie ist die Letzte, die übrig geblieben ist. In der Telefonstube laufen die Drähte heiß, um auch für sie eine Verwendung zu finden.

    Dann der Marschbefehl nach Franken, Flakscheinwerferstellung 204. Diese befindet sich bei Herlheim und gehört zum Fliegerhorst Gerolzhofen, so die offizielle Bezeichnung für den am Herleshof gelegenen Feldflugplatz im Ländereck zwischen Zeilitzheim, Wadenbrunn und Herlheim.

    Drei Baracken stehen dort bei Herlheim auf freiem Feld. Die Ausrüstung besteht aus einem zwei Meter („200er“) durchmessenden Parabolspiegel als Suchscheinwerfer, einem Funkmess-Ortungsgerät und einem Horchgerät, um auch bei Nebel oder Dunkelheit die Flugzeuge ausmachen zu können.

    Es gibt dort in der Unterkunft bei Herlheim eine Latrine im Freien und kein fließend Wasser. Im Winter wird Schnee geschmolzen, um sich damit waschen zu können. Verpflegt werden die Mädchen auf Bauernhöfen in Herlheim und Oberspiesheim. Dorthin, nach Oberspiesheim, verschlägt es das Mädchen von der Ostsee auf den Hof der Warmuths.

    Die Tochter des Hauses hatte sich um die Zuteilung einer Luftwaffenhelferin zum Essen bemüht, der Mutter aber in diesen kargen Zeiten nichts davon gesagt. Eva-Maria Lewandowski fällt in Franken vor allem die sprachliche Umstellung schwer.

    Sie hält die von ihrer Tochter überrumpelte Bäuerin, die nichts von dem zugewiesenen Flakmädchen wusste, deshalb für leicht verwirrt als sie diese mit den Worten begrüßt: „Da kummt so ä Stadtbrill’n daher und frisst dös und sall nit.“ Allein die Worte „dös und sall“ für „dieses und jenes“ sind der inzwischen 22-Jährigen völlig unbekannt.

    Trotzdem wird die Mitesserin rasch überaus herzlich bei den Warmuths in dem kleinen Bauernhaus wie ein eigenes Kind aufgenommen.

    Das Stadtmädchen ahnt da noch nicht, dass für sie mit diesem Tag ein neues Leben anbrechen und sie bald auf dem Land glücklich werden sollte. Durch das verbotene, heimliche Abhören feindlicher Radiosendungen weiß man auch auf dem Fliegerhorst und in der dazugehörigen Flakscheinwerferstellung trotz aller Durchhalteparolen und Propagandasprüche aus Berlin um die so gut wie ausweglose Lage. An den Endsieg glaubt schon längst keiner mehr.

    Die Amerikaner sind auf ihrem Vormarsch nicht mehr aufzuhalten und rücken immer näher. So dauert es nicht mehr lange, bis der Befehl zur Schließung des Flugplatzes und damit auch zur Auflösung der Flakscheinwerferstellung ergeht. Die Mädchen verstreut es in alle Himmelsrichtungen. Auch für Eva-Maria Lewandowski stellt sich die große Frage: Wo gehe ich hin?

    Als Einzige ihrer Kolleginnen bekommt sie die Zusage von ihrem „Versorgungsbauer“, bleiben zu dürfen. „Obwohl ich nichts hatte als meine Uniform“, wie sie heute betont. Damit war für sie die Entscheidung gefallen, obwohl es andere Angebote gab. So hätte sie etwa ins Rheinland gehen können. Aber hier bei Lena und Urban Warmuth und ihren Kindern Anna sowie dem Zwilling Paula und Richard hatte sie doch alles, was sie zum Leben brauchte. Dankbar nimmt sie an. Damit ist der Weg vom Mädchen aus der Stadt zur Bäuerin vorgezeichnet.

    Mutige „Schwarzgängerin“

    Doch plagen Eva-Maria Lewandowski jetzt ganz andere Sorgen. Die Lage in Deutschland ist durch die Kriegswirren unübersichtlich geworden. Wo sind die Eltern, lautet die bange Frage der Tochter.

    Der Vater, ein Ingenieur und früherer Direktor der Danziger Maschinenwerke, hat sich inzwischen selbstständig gemacht, um zusammen mit einem Verwandten mit Erfolg transportable Kachelöfen zu vertreiben. Deren Erfindung hat er sich patentieren lassen. Den Eheleuten Felix und Franziska Lewandowski ist ihre Eva-Maria aufgrund des frühen Todes der anderen Mädchen als einziges Kind geblieben.

    Die Briefe, die sie nach Hause schreibt, kommen unbeantwortet zurück. Auch Anfragen beim Roten Kreuz und bei Verwandten führen nicht weiter. Dann der Hinweis einer Tante aus Berlin. Sie hat von Evakuierungs-Transporten der Menschen aus dem Raum Danzig in Ost- oder Nordseenähe gehört. „Ganz Ostpreußen wollte damals raus“, erinnert sich die Unterspiesheimerin.

    Tatsächlich trifft kurz darauf in Oberspiesheim eine Postkarte der Eltern aus Groß Wokern bei Rostock in Mecklenburg ein, wo sie schließlich mit einem Transport gelandet sind. Der Vater verkraftet die Flucht aus der Stadt nicht und stirbt kurze Zeit später an einem Herzversagen. Auch die Mutter erkrankt schwer.

    „Und ich weit weg in Oberspiesheim“, so die Tochter. Nun beginnen ihre gewagten illegalen Grenzgänge als so genannte „Schwarzgängerin“ von der amerikanischen in die sowjetische Besatzungszone. Die junge Frau beweist viel Mut und hat viel Glück. Nur einmal gerät der Zug in eine Kontrolle und sie fliegt auf. Zur Strafe müssen sie und die andern die Waggons reinigen.

    Jetzt erweist es sich als vorteilhaft, dass der Vater noch zu Lebzeiten ihr Postsparbuch gut gefüllt hat. So kann sie die Zugfahrten nach Mecklenburg bezahlen und die kranke Mutti zusätzlich mit dem in der Kleidung verstreckten Geld versorgen. Und sie schmuggelt fleißig Lebensmittel von West nach Ost. Die Würste bindet sie zum Beispiel um die Beine unter der Trainingshose.

    Die Methoden werden immer ausgeklügelter und raffinierter. Eines Tages ersteht sie auf dem Schwarzmarkt sogar einen Diplomatenausweis, um den Kontrollen zu entgehen. „Not macht erfinderisch“, stellt sie heute fest. Ihrer Mutter rettet sie durch den Schmuggel das Leben.

    Obwohl sie noch lange im Ort nur als das „Flakmädle“ gilt, ist sie inzwischen längst in Oberspiesheim heimisch geworden. Bald lernt sie den kriegsversehrten Landwirt Alfons Pretscher aus Unterspiesheim kennen und lieben. Er hat ein Bein verloren und starke Verbrennungen erlitten, als sein Panzer in Brand geschossen wurde.

    1948 läuten für beide in Unterspiesheim die Hochzeitsglocken. So wird das Mädchen aus der Stadt durch den Krieg endgültig zum Bauernmädchen. Die Entscheidung hat sie bis heute nicht bereut. So blickt sie voller Zufriedenheit in ihrem Haus in der Augasse auf ein langes und erfülltes Leben zurück, dessen Verlauf der Krieg nachhaltig beeinflusst hat.

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