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SCHWEINFURT: „Jetzt bekomme ich den Gnadenschuss“

SCHWEINFURT

„Jetzt bekomme ich den Gnadenschuss“

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    Richard Oetker im Konferenzzentrum auf der Maininsel.
    Richard Oetker im Konferenzzentrum auf der Maininsel. Foto: FOTO Waltraud Fuchs-Mauder

    90 Minuten lang zog Richard Oetker mit seiner Überlebensgeschichte und der Art, wie er sie erzählte, in den Bann. Am Abend des 14. Dezember 1976 wurde der damals 25 Jahre alte Student der Agrarwissenschaften entführt. Nach 40 Stunden ließ der Täter ihn nach Zahlung von 21 Millionen DM schwerst verletzt wieder frei.

    „Das Opfer hat immer lebenslänglich“. Zitiert ist Franz X. Wanninger, Schatzmeister aus dem Bundesvorstand des Weißen Rings. Die Opferhilfe war im Jahr der Entführung gegründet worden. Bewusst fand zum 30. Geburtstag keine Feier statt. Die Schweinfurter Außenstelle nahm den Anlass aber wahr, um auf sich, den Weißen Ring, aufmerksam zu machen. Wanninger dankte 3000 Ehrenamtlichen, 60 000 Mitgliedern und Spendern. 225 Millionen Euro habe man in den drei Jahrzehnten an Opfer von Straftaten zahlen und, was weit wichtiger sei, „menschlichen Beistand“ leisten können. „Jeder kann zu jeder Zeit Opfer eines Verbrechens werden“, sagte Wanninger. Das machte viele nachdenklich – und war die Überleitung zu Oetker.

    Zur Erinnerung an die Entführung wird ein Kurzfilm gezeigt. Moderator Claus Effner vom Schweinfurter Ring bietet dem 56-Jährigen einen Stuhl an. Oetker lächelt zum ersten Mal: „Ich bin froh, dass ich heute hier stehe“, sagt er. Erst als er die Publikumsfragen beantwortet, setzt er sich.

    Oetker verlässt die Vorlesung in Weihenstephan, geht über den Parkplatz zum Auto, nimmt einen VW Kastenwagen wahr. Ihm ist mulmig, er will umkehren, zu spät. Ein maskierter Mann hält ihm eine Pistole mit Schalldämpfer unter die Nase. „Das Ding macht zack, los vorwärts“, sagt der. Dann verliert Oetker vermutlich wegen des Schocks das Gedächtnis. Als er wieder zu sich kommt, ist der 1,94-Meter-Mann in eine 1,40-Meter-Holzkiste eingezwängt. „Ich lag darin wie ein Embryo, nur nicht so beschützt“, lächelt er wieder. Ein Babyphon diente zur Verständigung, die am Kistenboden verankerten Handschellen muss er sich anlegen, sie waren an einen Stromkreis angeschlossen.

    Nach der ersten Nacht allein bei Minusgraden im Auto kehrt der Entführer morgens zurück. Plötzlich durchfährt Oetker ein elektrischer Schlag. Es brechen zwei Brustwirbel, beide Hüften, „ich dachte, jetzt werde ich umgebracht“. Die Schmerzen nennt Oetker „höllisch“.

    Wie hält man das alles aus? „Ich habe immer nach vorne geschaut, ich war überzeugt, dass ich irgendwann, irgendwie aus dieser Kiste rauskomme“. Oetker sagt, dass ihm diese Hoffnung, „unheimlich viel Kraft gegeben hat“. Ein Mensch könne sehr viel mehr aushalten, „als man glaubt“. Er verwickelt Zlof in Gespräche, duzt ihn, und spricht ihn mit „Checker“ an. Das ist der Spitzname von Oetkers bestem Freund. Er wollte Vertrauen erwecken und teilt Zlof mit, dass er ihn in dieser Situation als seinen besten Freund ansehe.

    Als das Lösegeld am Stachus übergeben ist, wird Oetker in einen Opel Commodore umgeladen. Er solle bis 100 zählen, dann die Kapuze abnehmen. „Als ich bei 40 war, ging überraschend die hintere Wagentüre auf. Ich dachte, jetzt bekomme ich den Gnadenschuss“. Aber: „Es geschah nichts“. 20 Minuten später öffnet ein Polizist die Tür. Oetker war gerettet.

    Zwei Jahre vergingen, bis Zlof gefasst war. Zlof erhielt 15 Jahre, wird 1994 entlassen. Die Tat leugnet er im Fernsehen noch immer. Ein Justizirrtum, sagt er. Wenig später holt Zlof das Lösegeld aus dem Versteck. Einige Scheine sind vermodert, die 1000-Mark-Scheine nicht mehr gültig. Das Angebot zur Geldwäsche in London fädelt die Polizei ein. Zlof ist überführt, erhält in Großbritannien weitere zwei Jahre. Oetker wusste jetzt, dass „der Richtige verurteilt worden war“.

    30 Jahre hat Oetker, außer im Gerichtssaal, geschwiegen. Mit seinem Leid zur Unterhaltung „in den Wohnzimmern beizutragen“, wäre für ihn „grauenhaft“ gewesen. Dann hat Zlof ein Buch mit der Story „verfassen lassen“, einen Film geplant, um Honorare einzustreichen. Getreu seinem Grundsatz, dass „ein Täter von seiner Tat nicht profitieren und sich nicht darstellen darf“, stimmte Oetker seinerseits einer Verfilmung seiner Geschichte zu, trat 2006 erstmals in der Öffentlichkeit auf, um Zlof „den Wind aus den Segeln zu nehmen“.

    Rache oder Hass, sagt Oetker, empfinde er nicht gegen Zlof, den er den ganzen Abend den Täter oder den Verurteilten nennt. Gleichwohl empfindet er Genugtuung insofern, als „der Täter aus der Tat keinen Vorteil zog“. War die Strafe gerecht? „Es sollte nicht Aufgabe der Opfer sein, über die Höhe die Strafe nachzudenken“.

    Immer wieder lächelt Oetker, akzeptiert alle Fragen, und wiederholt, dass er letztlich auch viel Glück hatte. Eine Querschnittslähmung drohte, die Lunge war kaputt. Körperlich ist Oetker eingeschränkt, ja, aber nicht psychisch. Er erklärt das mit seinem Optimismus und den Hilfen, die ihm das Netzwerk seiner Familie gab. Weil viele Opfer das nicht haben, deshalb habe er sich dem Weißen Ring angeschlossen.

    Langer Beifall. Ein Grußwort hatte Bürgermeister Otto Wirth für die Stadt gesprochen. Den musikalischen Part hatte das Fagott-Ensemble Legno nobile der Musikschule mit Jörg Schöner übernommen.

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