Eines der beeindruckendsten Werke dieser Ausstellung in der Kunsthalle ist der „Mann von der Winterhilfe“. Eine kleine Holzfigur nur, aber sie hat es in sich. Karl Röhrig hat dem dicken Steigbügelhalter der Nazis ein brennendes Hakenkreuz als Heiligenschein verpasst. Jahrelang versteckte der Bildhauer die Skulptur in einer Decke eingewickelt im Schrank. Sie hätte ihn unweigerlich ins KZ gebracht.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Röhrigs Werk weitgehend im Verborgenen. Erst jetzt, 39 Jahre nach seinem Tod, stellt die Ausstellung „Kleine Leute“ den Bildhauer auf ein Podest, in Augenhöhe mit der Avantgarde der Skulptur in Deutschland – und das nicht nur im übertragenen Sinne. Im Untergeschoss der Kunsthalle stehen 25 Werke von Röhrig ausgewählten Skulpturen und Lithografien von Ernst Barlach, Käthe Kollwitz, Christoph Voll, Emy Roeder, George Grosz und anderen gegenüber.
Der Vergleich zeigt, dass Röhrig unbedingt in die Reihe der wichtigsten deutschen Bildhauer gehört. Schon nach der Hälfte des Rundgangs erkennt der Besucher seine Figuren auch ohne Blick auf die Beschriftung: an den weiten Mänteln, den meist undramatischen, stillen Gesten, einer gewissen In-sich-Gekehrtheit, an der unverwechselbaren, zeitlosen Sprache des Bildhauers. Ein berührendes Beispiel ist der „Mann mit Sack“. Es ist ein Selbstporträt. Als Röhrig 1945 nach Krieg und Gefangenschaft in München ankam, waren Haus und Atelier zerstört, er stand vor dem Nichts. Über dieses persönliche Schicksal hinaus kann die Skulptur bis heute als Anklage gegen Krieg und Vertreibung gelesen werden.
Zu Unrecht vergessen
Besucher der Kunsthalle kennen den Heimkehrer aus der Dauerpräsentation der Sammlung Joseph Hierling. Damit sind wir bei dem Mann, dem diese Ausstellung letztendlich zu verdanken ist. Der Kunstliebhaber aus Tutzing hat jahrzehntelang gegen alle Strömungen und Moden Werke von Künstlern des 20. Jahrhunderts gesammelt, die wie Röhrig zu Unrecht vergessen waren. Er verbindet mit dieser Ausstellung die große Hoffnung, dass Karl Röhrig endlich seinen verdienten Platz in der Kunstgeschichte erhält. Unterstützt wird er dabei von den beiden Kuratoren – Erich Schneider, Leiter der Kunsthalle und Gerhard Finckh, Direktor des Von der Heydt-Museums Wuppertal, das die „Kleinen Leute“ 2012 zeigen wird.
Röhrigs Figuren klagen nicht an
Finckh beschreibt im Katalog die Gründe für Röhrigs Erfolglosigkeit: Er habe seine wichtigsten Werke zwischen 1928 und 1945 geschaffen, in jener Zeit, als die Kunst aufgrund der Wirtschaftskrise und danach wegen der Herrschaft der Nationalsozialisten und des Zweiten Weltkrieges an den Rand gedrängt und unterdrückt wurde. Nach dem Krieg, als Informel und Pop-Art den Markt eroberten, waren die sozialkritischen gegenständlichen Skulpturen eines Karl Röhrig nicht mehr gefragt. Er hatte zwar wenige kleinere Ausstellungen in München, blieb aber unbekannt und musste zeitweise in bitterster Armut leben. Die Ausstellung zeigt, dass er trotzdem an seiner kompromisslosen Haltung festgehalten hat. Sein Ideal war ein Sozialismus im Sinne einer weltumspannenden Brüderlichkeit, die er in seinen Werken sichtbar machen wollte.
Anders als beispielsweise Käthe Kollwitz' dramatische Radierung „Zertretene“ (Arme Familie) klagen Röhrigs Figuren nicht an, sondern erzählen in ihrer unaufdringlichen Haltung eher still vom Leben der kleinen Leute. Für die Reichen und Mächtigen hatte Röhrig kein Verständnis. Die Arbeit „Familie Kann (Autofahrt)“ von 1932 entlarvt die selbstgefällige Hier-kommen-wir-Haltung eines satten Wohlstands-Paares. Die Gruppe mit riesigem Hund steckt voller Anspielungen, das Lenkrad beispielsweise ist dem Mercedes-Stern nachempfunden.
Erich Schneider hat mehrere Gruppen gebildet, unter anderem zu den Themen Akt, Begegnung, Arbeiter – immer in der Gegenüberstellung von Röhrig mit Kollegen seiner Zeit. Sehr berührend die Holzskulptur „Nackter Junge“ von Christoph Voll, um nur ein Beispiel zu nennen. Eine tieferen Einblick in das Leben von Karl Röhrig und eine kunsthistorische Einordnung ermöglichen die Beiträge im Katalog.
Auch diese neue Ausstellung, die aus dem Schatz der Sammlung Joseph Hierling schöpft, macht deutlich, welch' großer Glücksfall die Zusammenarbeit mit diesem Kunstliebhaber für die Stadt und die Kunsthalle ist.
„Kleine Leute“, Karl Röhrig, (1886-1972) und die Avantgarde der Skulptur in Deutschland von Barlach bis Voll, Kunsthalle. Bis 3.Oktober. Öffentliche Führung am 11. September, 11 Uhr.