Ein seltenes Ereignis. Pfarrer Roland Breitenbach ist sprachlos. Zumindest fast. „Ich bin tief bewegt.“ Zusammen mit Diakon Stefan Philipps hat der Pfarrer von St. Michael gerade eben den Motorradgottesdienst zelebriert. Die 37. Auflage. Die letzte. Und der sonst so eloquente Kirchenmann weiß irgendwie nicht, wie er sein Gefühlsleben in Worte kleiden kann. „Es ist sehr bewegend, wenn gestandene Mannsbilder Tränen in den Augen haben.“ Dass er selbst emotional aufgewühlt ist, verrät ein Blick in sein Gesicht.
Diesmal sind mehr Biker gekommen als gewöhnlich. Allein 1000 sind von Würzburg mit einer Polizeieskorte angereist. Auf 7000 schätzt Breitenbach die Besucherzahl. Nicht einmal die Hälfte schafft es in die Kirche, wo kaum noch ein Stehplatz zu bekommen ist.
Der Motorradgottesdienst hat Kultcharakter. Eine Mischung aus Happening, Jahrmarkt und Motorradtreffen. Aber ohne Klamauk, dafür mit vielen hochemotionalen Momenten und Botschaften, die jeder verstehen kann und deren Ernsthaftigkeit die Menschen überzeugen. Und genau das ist es, weswegen sie von weither anreisen, um „ihrem“ Pfarrer zuzuhören. Gläubige Menschen in Thermowäsche, Lederklamotten und Warnwesten.
Sie kommen, weil im Gottesdienst Rockmusik von „Europe“ und Phil Collins erklingt, Paare sich küssen, Väter ihre Söhne drücken dürfen. Ja, sogar ein Hund ist da. Sie kommen auch, weil Breitenbach Herzlichkeit ausstrahlt und ein klares Wort pflegt. Der Pfarrer geißelt die Arbeitsbedingungen von Näherinnen in Bangladesh: Wer bei hiesigen Modeketten kauft, die dort fertigen lassen, sei mitverantwortlich, dass Menschen ausgebeutet werden.
In der Gottesdienstdramaturgie hat gar Philosoph Ferdinand Lassalle Platz: „Jeder Mensch ist einmalig.“ Und alle zusammen „sind wir eins“, sagt Breitenbach: „Deswegen seid ihr alle da.“ Sein Blick wandert über die vielen hundert Gesichter. „Das ist gewaltig“, bricht es aus ihm heraus.
Und jeder, so die Botschaft, ist ein wunderbarer Mensch. Man muss es nur jedem sagen, fordern Philipps und Breitenbach auf. Lauter wunderbare Menschen. Philipps zieht Breitenbach an seine Brust. „Roland, du bist ein wunderbarer Mensch.“ Klatschen, Pfeifen, Johlen. Minutenlang. Der emotionale Höhepunkt des Gottesdienstes.
Möglicherweise nur übertroffen vom gemeinsamen Lied „We shall overcome“, der Hymne der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die Motorradfahrer bilden ein schier endloses Band mit ihren Halstüchern, die sie ansonsten im Sattel vor dem Fahrtwind schützen. So gedenken sie auch ihren Freunden und Bekannten, die ihr Leben auf der Straße gelassen haben. Selten wird in einer katholischen Kirche mit so viel Inbrunst gesungen.
Im Durcheinander von Helmen und Motorradjacken wirkt alles etwas chaotisch und improvisiert, ist aber beispielsweise mit Heerscharen von Ministranten bestens organisiert: Wir kriegt man sonst 7000 Hostien an den Motorrad-Mann oder die -frau? Mittendrin Breitenbach mit einer Seelenruhe.
Philipps greift zur Gitarre: „Forever young“ intoniert er und die 3000 Kehlen im Gotteshaus mit ihm. Es ist das Motto dieses letzten Motorradgottesdienstes. Und irgendwie passt es besonders zu Breitenbach.
Der braucht einige Zeit, bis er nach dem letzten Ton den Weg zum Ende der rappelvollen Florian-Geyer-Straße findet, um jeden einzelnen Biker zu segnen. Auf dem kurzen Fußweg haben immer wieder einige das Bedürfnis, mit Breitenbach ein paar kurze persönliche Worte zu wechseln. Eine Umarmung. Schulterklopfen.
Viele von ihnen kennt Breitenbach persönlich, einige ihrer Schicksale hat er selbst miterlebt. Eine Frau übermittelt Grüße ihrer Tochter aus den USA.
Als er es bis zur Paul-Gerhardt-Straße schafft, kommt Ordnung in das Tohuwabohu. Geduldig reihen sich die Kawasakis, Harleys und Moto Guzzis ein. Weil selbst Breitenbach und Philipps 7000 Einzelsegen nicht hinbekommen, sind gleich sechs Segnungsstationen eingerichtet.
Der Pfarrer verspritzt mit einem Tannenwedel Weihwasser, tätschelt Wangen, knufft Kinderarme. Bis auch der letzte den ersten Gang einlegt und am Gashebel dreht. Breitenbach ist zufrieden.

