Volkskrankheit Rückenschmerz: 70 Prozent aller erwachsenen Deutschen hatten im vergangenen Jahr Rückenschmerzen, etwa jeder zweite Hausarztbesuch erfolgte wegen Wirbelsäulenbeschwerden. Die sind auch der Grund für fast 50 Prozent aller vorzeitigen Berentungen und verursachen jährlich etwa 20 Milliarden Euro direkte und indirekte Krankheitskosten. Und: Nach dem 30. Lebensjahr hat jeder Mensch eine Degeneration der Wirbelsäule.
Diese alarmierenden Fakten stellt Privatdozent Dr. Johann Romstöck, Chefarzt der Neurochirurgischen Klinik im Leopoldina, an den Anfang seines Online-Seminars zum Thema "Hexenschuss und Rückenschmerzen: Ursachen vermeiden – schonend behandeln". Ausführlich und verständlich erklärt Romstöck Aufbau und Funktion der Wirbelsäule, die "etwas ganz Besonderes leistet", wie er betont: Einerseits soll sie fest sein und halten, andererseits muss sie ein gewisses Maß an Beweglichkeit ermöglichen.
Anatomie der Wirbelsäule
Die Wirbelsäule setzt sich aus der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule zusammen. Gegeneinander bewegliche Knochen, die Wirbelkörper, umschließen und schützen das aus Nervengewebe bestehende Rückenmark. Von hier aus laufen Nerven in alle Körperregionen. Muskeln, Bänder und elastische Bandscheiben sorgen für Stabilität und zugleich für Beweglichkeit.

Die Bandscheiben bestehen aus Bindegewebe mit einem festen, elastischen äußeren Ring und einem weichen Kern. Bei einem Bandscheibenvorfall (meist an der Lendenwirbelsäule) bewegt sich meist nicht die Bandscheibe selbst, sondern es kommt zu einem Austritt der Gallertmasse aus dem Kern, die auf die Rückenmarksnerven drücken kann. Bei einem Hexenschuss nach Heben, Drücken, Bücken oder Aufrichten ist dies noch nicht der Fall. Hier verschiebt sich die Bandscheibe minimal in Richtung des Wirbelkanals: Druck auf die Rückenmarksnerven, Muskelverspannungen, "Sperre im Kreuz" sind die Folgen.
Bewegung statt Schonung
Der Druck auf die Rückenmarksnerven kann sich als Schmerz äußern (Kreuz-, Gesäß- oder Hüftschmerz), als Störung der Sensibilität (Taubheit, Pelzigkeit) oder als Störung der Motorik (Kraftlosigkeit, Lähmung, unsicherer Gang, Blasen-Mastdarm-Lähmung). Der häufigste Grund für Rückenschmerzen sind allerdings verspannte harte Muskeln. Solche Verspannungen entstehen etwa nach Fehlhaltungen oder einseitiger Belastung, bei Bewegungsmangel, Übergewicht, zu langes Sitzen, falsche Hebetechnik, Stress. "Bewegung statt Schonung" rät Romstöck.
Bei Rückenschmerzen im Akutfall (ohne neurologische Defizite) empfiehlt Romstöck: Ruhe – aber nicht absolut, leichte Bewegung, Stufenbett-Lagerung, Schmerzmittel, Muskelentspannung durch Wärme. Bei chronischen Schmerzen trotz konservativer Therapie ist eine erweiterte Diagnostik und eine individuelle und interdisziplinäre Entscheidung in der Klinik notwendig: "Wie können wir dem Patienten helfen – mit einer umfangreicheren Therapie oder mit einer Operation?"
Ist eine OP notwendig?
Diese Therapieentscheidung hat im Leopoldina hohen Stellenwert: Nach einer ausführlichen Erstellung der Vorgeschichte folgt eine aufwendige neurologische Untersuchung. Dann sind Fragen zu klären wie: Welche Befunde liegen vor (Bildgebung, Elektrophysiologie zur Messung elektrischer Körperströme), Alter und Nebenerkrankung der Patientin, des Patienten. Wie sehr ist die Lebensqualität beeinträchtigt, wo steht der Patient im Leben (Beruf, Familie, sozialer Rückhalt). Versteht der Patient sein Problem, sind seine Erwartungen eventuell zu hoch?
Die neurochirurgische operative Therapie – Romstöck verweist auf die "Abteilung für spezielle Wirbelsäulenchirurgie" unter Chefarzt Shadi Shararah – umfasst verschiedene minimalinvasive Infiltrations-Techniken. Eine Möglichkeit ist die Facetteninfiltration. Unter Röntgenkontrolle wird ein Betäubungsmittel oder Cortison gespritzt oder es werden für den Schmerz verantwortliche Nervenbahnen durch Hitze oder Kälte ausgeschaltet.
Mikrochirurgische Verfahren kommen zur Entfernung der Bandscheibe oder der ausgelaufenen Gallertmasse zum Einsatz. Sie sollen die gequetschte Nervenwurzel durch Entfernung von vorgefallenem Bandscheibengewebe entlasten. Bei einem "Schlüsselloch-Zugang" gewinnt der Operateur eine direkte mikroskopische Sicht im XE-Licht, um dann den defekten Bandscheibenraum auszuschaben. Diese Methode bedeutet eine geringe Verletzung für eine minimale Vernarbung. Schließlich gibt es auch die Notwendigkeit zur "offenen" Vorgehensweise, zur großen Operation.
Der Chefarzt schließt mit eindringlichen Worten zur Vorbeugung: Aufrechte Haltung, richtiges Bücken, Heben, Tragen. Gewichtskontrolle, Vermeidung von Nikotin, rückenfreundliche Sport- und Bewegungsübungen, Reduktion von Stress durch Entspannungsübungen, Vermeidung von Kälte und Zugluft, richtiges Sitzen mit Pausen.