Es ist die erste Anschuldigung, die angesichts der seit Monaten laufenden Diskussionen um Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen gegen eine Institution im Landkreis Schweinfurt erhoben wird.
In einem ausführlichen Schreiben berichtet der heute 49-jährige Seyfert, was er damals als Siebenjähriger im Heim erlebt hat. Besonders in Erinnerung ist ihm das „schreckliche Regiment“ von Schwester E., die auch aus nichtigem Anlass das entsprechende Kind sich bäuchlings auf einen Stuhl hat legen lassen: „Dann holte E. einen Rohrstock aus dem Schrank und schlug mit aller Kraft und verzerrtem Gesicht auf das Kind ein. Zehn bis 20 Schläge waren die Regel.“
Zwar hat er solche Bestrafungsaktionen am eigenen Leib verspürt, wie er berichtet, aber eine Szene hat sich bei ihm tief ins Gedächtnis eingegraben. Ein gleichaltriges Mädchen namens Ellen habe vor dem Ofen ein paar Kohlen auf dem Boden verschüttet. E. eilte demnach „wutentbrannt“ zum Schrank, während das Mädchen bereits verzweifelt versucht habe, die Brocken wieder einzusammeln. „E. schlug mit dem Stock auf das am Boden liegende Kind, auf den Körper, ins Gesicht – mit dem Rohrstock wohlgemerkt. Zehn- bis 20-mal. Es war fürchterlich. Ich höre das Weinen und Schreien manchmal heute noch.“
Ein Leben voller Angst
Insgesamt, sagt Seyfert, der heute außerhalb Bayerns lebt, habe im Heim eine angsterfüllte Atmosphäre geherrscht. Auch als er nach einem Jahr Aufenthalt wieder bei seiner Familie in einer Nachbargemeinde lebte, habe er bis zu seinem 15. Lebensjahr große Angst gehabt, nochmals in die „Marienpflege“ geschickt zu werden, sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung, Und er differenziert: Andere Schwestern habe er in guter Erinnerung. Auch die damalige Oberin habe Ohrfeigen verteilt, E.'s Prügelattacken ragten aber heraus. Und dass Heimkinder in der Schule, in der zu dieser Zeit ebenso wie in Heimen und Familien Gewalt zu den verbreiteten Erziehungsmitteln zählte, mehr Schläge abbekamen als die Einheimischen, sei eine andere Facette der Geschichte.
Wer war diese Schwester? Sie gehörte dem Orden der „Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau“ mit Sitz in München an. Das Nonnenkloster betreibt heute 19 Schulen, Kindergärten und andere pädagogische Einrichtungen. In Grafenrheinfeld bauten die Schwestern das Kinderheim 1854 auf und arbeiteten über 151 Jahre lang dort mit.
Insgesamt, so Andreas Waldenmeier als heutiger Leiter des „Marienpflege“-Nachfolgers „Maria Schutz“, werde die Arbeit der Schwestern im Ort positiv gewürdigt. Die dortige Grundschule ist nach der Ordensgründerin Theresia Gerhardinger benannt. In der Chronik von „Maria Schutz“ wird die beschuldigte Schwester E. für 1970 als eine der Gruppenleiterinnen ausgewiesen, die dann 1982 den Pfortendienst übernommen hat und ein Jahr später als Oberin und Heimleiterin nach Metten ging. Nach Information des Ordens ist sie 1990 gestorben.
Noch keine Stellungnahme
Das Provinzialat der Schulschwestern hat die Münchener Rechtsanwältin Elisabeth Aleiter als Missbrauchsbeauftragte eingesetzt, an die sich Opfer (auch vertraulich, wie sie betont) wenden können und die für den Orden Stellungnahmen abgibt. Grundsätzlich sei die Klosterleitung daran interessiert, sich mit möglichen Fällen auseinanderzusetzen. Laut Aleiter liegen derzeit keine konkreten Vorwürfe gegen das Heim „Marienpflege“ oder Schwester E. vor. Durch die Recherchen dieser Zeitung ist die Oberin des Klosters über Seyferts Angaben informiert. Nachdem es aber bislang keinen Kontakt zu ihm gegeben habe, wolle man sich zu diesem Fall nicht äußern, so Aleiter.
Die Caritas hat die Nachfolge-Einrichtung „Maria Schutz“ in Grafenrheinfeld 1971 als Träger übernommen, die Schulschwestern arbeiteten dort bis 1995 weiter. Der heutige Leiter Andreas Waldenmeier, der sich dieser Zeitung gegenüber offen für die Aufarbeitung der Geschehnisse zeigt, versucht eine Einordnung. Über die von Seyfert geschilderten Ereignisse schüttelt er den Kopf: „Das ist extreme Gewalt“, die als „übergriffig“ eingestuft werden müsse. Frustration, Sadismus und Überforderung könnten mögliche Ursachen sein. Gründe, die auch heute noch für Gewaltausbrüche sorgen können, wenngleich sie ebenfalls nicht tolerabel seien.
Erziehen statt Versorgen
Insgesamt habe es in den vergangenen Jahrzehnten in der Erziehung einen Wertewandel gegeben. Es sei inzwischen anerkannt, dass Kinder Rechte haben. „Aber es bestehen klare Regeln und die Verhaltensweisen der Kinder müssen den Regeln angemessen sein.“ Auch die Aufgaben der Heimerziehung haben sich deutlich verändert: Ging es früher hauptsächlich um die Versorgung von Waisen, behandeln Jugendhilfeeinrichtungen wie „Maria Schutz“ in erster Linie Verhaltensauffälligkeiten. „Das sind ganz andere Anforderungen.“
Allerdings macht Waldenmeier deutlich, dass grundsätzlich auch heute Gewaltanwendung „in seltenen Fällen“ möglich sei, sozusagen als letztes pädagogisches Mittel. Sie zeige sich im Festhalten oder „Draufsetzen“ auf ein Kind, das ansonsten nicht mehr zu bändigen ist. Das alles habe aber Konsequenzen: Dokumentation, Information der Vorgesetzten, eventuell Einschalten der Polizei, Mitteilung an die Aufsichtsbehörden und nicht zuletzt ein Gespräch mit dem Betroffenen. Für Waldenmeier ist dabei „Transparenz“ ein wichtiger Begriff. Ein Wort, das im Alltag von 1968 noch keine Rolle gespielt hat.