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Schweinfurt: Rettung oder Falle? Wie Jüdinnen und Juden aus Schweinfurt flohen und ein kleiner Junge mit seiner Familie überlebte

Schweinfurt

Rettung oder Falle? Wie Jüdinnen und Juden aus Schweinfurt flohen und ein kleiner Junge mit seiner Familie überlebte

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    Tom und Wolf Stein, verkleidet für eine Purim-Feier, Hamburg 1936. Dorthin war die Familie Stein als erstes geflohen. 
    Tom und Wolf Stein, verkleidet für eine Purim-Feier, Hamburg 1936. Dorthin war die Familie Stein als erstes geflohen.  Foto: United States Holocaust Memorial Museum, photograph 97265, courtesy of Thomas Stein

    Als Wolfgang Stein 2004 seine Geburtsstadt Schweinfurt besuchte, berichtete er zum ersten Mal über seine NS-Verfolgung und seine ungewöhnliche Befreiung im April 1945. Seine fünfköpfige Familie mit dem Vater Dr. Fritz Stein hatte zu den 16 jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern Schweinfurts gehört, die zwischen 1934 und 1939 vor der NS-Verfolgung in die benachbarten Niederlande flohen.

    Das war anfangs relativ einfach, wenn man die Mittel für den künftigen Lebensunterhalt nachweisen konnte. Doch es war nicht sicher. Im Mai 1940 besetzte die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Effizienter und schneller als in Deutschland setzten die Besatzer die NS-Verfolgungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung durch.

    Seit dem Sommer 1942 deportierten sie im Land lebende Jüdinnen und Juden, darunter auch sieben überwiegend ältere Menschen aus Schweinfurt. Sie wurden zwischen September 1942 und April 1943 nach Auschwitz und Sobibor im besetzten Polen transportiert und dort sofort ermordet.

    Auch er und seine Frau Else gehörten zu den Untergetauchten: Salomon Hirsch, 1924.
    Auch er und seine Frau Else gehörten zu den Untergetauchten: Salomon Hirsch, 1924. Foto: © Stadtarchiv Schweinfurt

    Mehr als die Hälfte der Schweinfurter Flüchtlinge, darunter die Familie Stein, versuchte, im Versteck den Deportationen zu entgehen. Dafür waren die Bedingungen dank der aktiven Untergrundbewegung immerhin besser als in Deutschland. Zu den Untergetauchten gehörten der Kaufmann Salomon Hirsch und seine Frau Else sowie der Rechtsanwalt Felix Brandis (1887 – 1949) mit seiner Frau Hedwig.

    Die Brüder Karl, Wilhelm und Felix Brandis, 1908.
    Die Brüder Karl, Wilhelm und Felix Brandis, 1908. Foto: Hofphotograph Uhlenhuth, Schweinfurt

    Schon im Juni 1934 zog das Ehepaar nach Amsterdam. Anwaltszulassung und deutsche Staatsbürgerschaft wurden Felix daraufhin entzogen. Er arbeitete "in der de Bary Bank Amsterdam als Beamter". So berichtet es Hedwigs Schwester in Schweinfurt, als sie im Sommer 1945 eine Suchanfrage nach ihren Verwandten stellte. Seit Mai 1943 sei Felix Brandis "in einem Konzentrationslager bei Amsterdam". Doch er wurde nicht deportiert, sondern kehrte wohl zu seiner nichtjüdischen Frau zurück, die ihn seitdem versteckte. Das Paar überlebte und blieb in den Niederlanden.

    Massive Drohungen, eine Verhaftung, dann die Flucht: das Schicksal der Familie Stein

    Auch die Familie von Fritz (1899 – 1956) und Ruth Stein (geb. 1905) mit ihren Söhnen Wolfgang (Jg. 1929), Thomas (Jg. 1931) und Michael (Jg. 1935) gehört zu den Schweinfurter Emigranten, die untertauchten. Der Ökonom Dr. Fritz Stein und sein Bruder Jakob hatten in Schweinfurt die Geschäfte der "Basaltstein GmbH" ihrer Familie mit mehreren Standorten in Deutschland und in der Schweiz geführt.

    Schon im Sommer 1933 begannen die NS-Behörden, sie durch eine erste Verhaftung unter Druck zu setzen. Es folgten wirtschaftliche Boykotte und im April 1936 eine neuerliche Verhaftung, als sie zu einer Filiale in die Schweiz ausreisen wollten. Sie wurden massiv bedroht und unter Druck gesetzt, auf die Firma zu verzichten, um freizukommen. Nach drei Wochen willigten sie ein, ihre Vertretungsbefugnis wurde ihnen entzogen.

    Dr. Fritz Stein, 1945/46.
    Dr. Fritz Stein, 1945/46. Foto: Yad Vashem

    Nach der Entlassung verließ Fritz sehr schnell Schweinfurt. Er zog mit seiner Familie nach Hamburg und im September 1937 von dort nach Amsterdam. Sein Bruder Jakob floh in die USA. In Amsterdam arbeitete Fritz später für die deutsche Rüstungsindustrie. Dies war laut Kartei des Judenrats der Grund dafür, dass seine Familie 1942/43 zunächst von den Deportationen verschont blieb.

    Im Spätsommer 1943 änderte sich das. Die Gefahr einer Deportation wuchs rasant. Die Eltern entschieden, unterzutauchen und jedes Kind woanders unterzubringen. Dabei wurden sie unter anderem von ihrem Kinderarzt unterstützt. Der zwölfjährige Tom landete auf einem Bauernhof, wo er auch arbeitete, sein achtjähriger Bruder Michael überlebte in einem Versteck in Rotterdam. Die Eltern Ruth und Fritz hingegen wurden schon im November 1943 entdeckt, der älteste Sohn Wolfgang im März 1944 verraten. Innerhalb weniger Tage kamen sie in das zentrale Sammellager Westerbork in den Niederlanden und wurden von dort im Februar bzw. April 1944 in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Dort trafen sie sich wieder.

    Ruth Stein, 1945/46.
    Ruth Stein, 1945/46. Foto: Yad Vashem

    In dem Lager in der Lüneburger Heide betrieb die SS seit 1943 ein "Austauschlager" für jüdische Häftlinge. Sie waren für einen Tausch gegen im Ausland festgehaltene Deutsche vorgesehen. In den letzten Monaten vor Kriegsende brachen dort wegen der starken Überbelegung Versorgung und Hygiene komplett zusammen. Epidemien grassierten. Die Toten blieben unbestattet und aufgestapelt liegen. Diesen Anblick konnte Wolfgang Stein, wie er 2004 berichtete, nie vergessen. Wie durch ein Wunder blieben er und seine Eltern am Leben.

    Am 23. April werden die Überlebenden aus dem "lost train" befreit

    Wenige Tage vor der Befreiung des Lagers am 15. April mussten sie mit etwa 6700 weiteren Häftlingen des Austauschlagers drei Züge besteigen. Ihrer war der dritte Zug mit etwa 2400 Häftlingen. Er startete am 10. April und fuhr im Schneckentempo durch den schmalen, noch nicht befreiten Korridor zwischen Engländern/Amerikanern und Russen. Am 23. April 1945, also vor 80 Jahren, wurden sie von der russischen Armee bei dem kleinen Ort Tröbitz in der Niederlausitz befreit. Die Menschen an Bord hatten kaum Wasser und Nahrung bekommen, viele von ihnen waren stark entkräftet oder litten an Fleck-Typhus. Mehr als 200 Tote waren unterwegs notdürftig an der Strecke begraben worden.

    Die Ortsverwaltung, die Bewohner und die russische Armee waren mit der Versorgung von 2000, meist kranken Menschen überfordert. Ein Lazarett und Grabstellen für die vielen Toten wurden angelegt. Erst nach mehrwöchiger Quarantäne und über 300 weiteren Todesfällen kam die Epidemie zum Stillstand. Zwei Befreite brachten die Nachricht über den "lost transport", den verlorenen Zug, zu den Amerikanern und in die Niederlande. So konnten die Gestrandeten ab Mitte Juni zurück in die Niederlande gebracht werden.

    Besuch in der Heimat, die längst fremd geworden war: Wolfgang Stein im Jahr 2004 in Schweinfurt,  wo er Margarita Calvary traf.
    Besuch in der Heimat, die längst fremd geworden war: Wolfgang Stein im Jahr 2004 in Schweinfurt,  wo er Margarita Calvary traf. Foto: Fuchs-Mauder

    Für Wolf Stein war traumatisierend, was er im KZ Bergen-Belsen, während der Fahrt des Transports und danach in Tröbitz sah und erlebte. Es quälte ihn jahrzehntelang, ohne dass er darüber reden konnte. Erst nach langjährigen Therapien konnte der Arzt 2004 bei seinem Besuch in Schweinfurt über seine Verfolgungsgeschichte sprechen. 2020 ist er in Amsterdam gestorben.

    Elisabeth Böhrer recherchiert als Heimatforscherin seit mehr als 30 Jahren zur Geschichte jüdischer Familien in Unterfranken und besonders in Schweinfurt. Dr. Rotraud Ries ist Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Sie leitete bis 2022 das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte in Würzburg und war maßgeblich am Projekt DenkOrt Deportationen beteiligt.

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