(hh) „Gestörte Idylle“ lautet der Titel eines 1995 von Rainer-Max Uhrig mit anderen Autoren veröffentlichen Sammelbands zum Thema Friedrich Rückert. Zum ersten Mal wurde das gängige Klischeebild des provinziellen Dichters mit anderen Literaten des 19. Jahrhunderts verglichen und neu interpretiert. Die Leidenschaft Uhrigs für Bücher, Sprache und Lyrik – insbesondere die des 19. Jahrhunderts – hat in Rückert seinen Ursprung. Jetzt traf er einen anderen Rückert-Experten in Russland.
Über Rückerts erst positives, später teilweise sehr kritisches Russlandbild kam auch Uhrig zum Thema Russland. Mittlerweile ist er „Russlandexperte“. Er hat mehr als 2000 Bücher über das Land gelesen, hat es mehrfach bereist und Sprachkurse besucht. Auf seiner neuesten Reise traf der Gymnasiallehrer, der vier Jahre lang Mitherausgeber des Jahrbuchs der Rückertgesellschaft war, den russischen Gelehrten Anatoli Bakalow.
In Samara (früher Kuibyschew), einer 1,3 Millionen-Stadt an der mittleren Wolga, besuchte er den 67-jährigen Professor, der ihm seit einigen Jahren als Rückert-Forscher bekannt ist. Der Germanist und Anglist unterrichtet und forscht am Lehrstuhl für Geschichte der Weltliteratur der Pädagogischen Staatsuniversität Samara. Zugleich doziert Bakalow an der Eisenbahner-Hochschule. Sein besonderes wissenschaftliches Interesse gilt der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts.
Uhrig erfuhr, dass Bakalow Bücher und Abhandlungen über Theodor Storm, Freifrau von Droste-Hülshoff, Adalbert von Chamisso und eben Friedrich Rückert geschrieben hat. „Er schätzt die Lyrik Rückerts hoch ein und vergleicht sie in einer gesonderten Studie mit der Lyrik Storms“, berichtet Uhrig. Dieser Aufsatz erschien in deutscher Sprache in den „Rückert-Studien“. In Russland hat Bakalow ein Buch über „Die deutsche nachromantische Lyrik“ herausgebracht.
Bakalow kennt Schweinfurt. Mitte der 90er Jahre hatte der Literaturwissenschaftler die Stadt besucht. „Er erinnerte sich noch gut an den Schrotturm, in dem er nach der Besichtigung des Rückert-Archivs zusammen mit seiner Tochter übernachtete“, berichtete Uhrig. „Im Garten des Professors in Samara konnte ich das russische Datscha-Leben kennen lernen, erzählt der in Zell bei Schweinfurt lebende 62-Jährige. Statt Kaffee und Kuchen habe es an einem Sonntagnachmittag Okroschka gegeben, eine kalte Gemüsesuppe mit Fleischeinlage und Kwas, ein Brottrunk mit vergorenen Beeren. Dabei sprachen die beiden Autoren über die Rezeption Rückerts in der russischen Literatur. „Ich hatte meine Forschungsergebnisse mitgebracht und wir tauschten uns aus.“
Uhrig berichtet, dass Rückerts Werk im Russland des 19. Jahrhunderts nicht unbekannt war. Der russische frühromantische Dichter Wassili Schukowski (1783-1852) übersetzte Rückerts Epen „Nal und Damajanti“ und „Röstern und Suhrab“ bereits 1842 und 1848 ins Russische. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich mindestens zehn Autoren nachweisen, die Texte von Rückert übersetzt haben, darunter der hervorragende russische Lyriker Afanassi Fet (1820-1892).
Uhrigs Fazit: Es gibt 2500 Kilometer östlich von Schweinfurt, im tiefsten Russland, einen Stützpunkt für die Rückert-Forschung. Der deutsche Rückert-Kenner vereinbarte mit dem russischen Rückert-Freund einen ständigen Austausch beider Publikationen.