Sie müssen sich ziemlich gedulden, die Zuhörer im gut gefüllten Schweinfurter Naturfreundehaus. „Sahra kommt“, verkünden die Plakate mit dem Konterfei der Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht. Aber sie kommt nicht, wie geplant, am Freitag um 19 Uhr. Erst gegen 20.15 Uhr läuft sie ein, als der Ex-Parteivorsitzende Klaus Ernst, vormals Schweinfurts IG-Metall–Chef, erzählt, wie die anderen Parteien gerade Linke-Politik machen – mit der Abschaffung der Praxisgebühr.
Vorher hatte die DGB-Songgruppe mit Liedern wie „Verzins' dich doch mal selbst“ und dem „Bankräuber“-Song das Thema des Abends quasi eingespielt: Hier die Macht der Banken, Hedgefonds, Milliardäre, deren Interessen die Regierungen freundlich bedienen – dort die Ohnmacht Millionen kleiner Leute in Griechenland, Spanien, auch Deutschland, denen Löhne und Sozialleistungen bis unter die Armutsgrenze zusammengestrichen werden. Eben singt die DGB-Gruppe frei nach der fränkischen Weise „Ja wir Zuckerrübenbauern halten zam“, dass sie, „die Linken hier in Bayern“ das auch tun und „Sahra, Sahra, rot ist die Hoffnung und die stirbt zuletzt“, als die wirtschaftspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag den Saal betritt. Unter großem Beifall eilt sie zur Bühne. Eineinviertel Stunden zu spät ist sie gekommen (der Flieger ist schuld) – eine Dreiviertelstunde braucht sie, um den real existierenden Kapitalismus in Grund und Boden zu reden.
Eurorettung? Es geht nicht um den Euro, sondern „um die Rettung der Banken und Millionäre“. Staatsverschuldung? Soziale Wohltaten sind nicht die Ursache. „Europaweit sind die Staatsschulden in einer Zeit explodiert, als der Sozialstaat zusammengestrichen wurde“ – in Form von Minilöhnen und Rentensenkung. Zwei Ursachen sieht Wagenknecht für ausufernde Staatsschulden: Erstens den Verzicht auf Harmonisierung der Steuersätze in Europa, was zu einem Wettlauf um die geringsten Steuern für Unternehmen und Reiche geführt habe; zum zweiten die Finanzkrise. Steuerzahler mussten die Verluste der „Zockerbuden“ übernehmen, zu denen sie auch die Deutsche Bank zählt. „Für die erste Billion Staatsschulden haben wir 50 Jahre gebraucht, für die zweite nur noch 15.“
Die Staatsschulden resultieren demnach überwiegend aus nicht mehr erhobenen Steuern für Reiche und der Rettung der Banken. „Die Milliarden sind nicht weg, sondern in die Vermögen der Wohlhabenden gewandert.“ Die, meint die rote Sahra im weinroten Kostüm, sollte man dort wieder holen: „Eine Krisenabgabe von 50 Prozent, dann sind die Milliarden wieder da, wo sie vor 15 Jahren waren und die Millionäre nagen noch immer nicht am Hungertuch.“ Und: „Wir müssen doch nicht die letzten Zockerbuden retten.“ Schattenbanken und Hedgefonds müssen pleitegehen können und „systemrelevante Banken gehören unter öffentliche Kontrolle, gemeinwohlorientiert“.
An der Riester-Rente lässt die Linke-Ikone kein gutes Haar. Der Kleinsparer interessiere die Erfinder dieses Konstrukts „einen Dreck“. Gewaltige Provisionen strichen die Konzerne auf Kosten der Versicherten ein, „und der Einzahler muss 90 werden, um nur seine Einlagen zu bekommen“. Würden die vier Prozent Riester-Förderung in die Umlagerente gesteckt und vom Arbeitgeber weitere vier Prozent dazu gegeben, wäre den Menschen wirklich geholfen.
Das Vertrauen der Menschen erwerben
Das plakatierte Thema „Freiheit statt Kapitalismus“ – eine Analogie zur Parole „Freiheit statt Sozialismus“ im CDU-Bundestagswahlkampf von 1976, nur in die entgegengesetzte Richtung – nimmt Sahra Wagenknecht in dieser schlichten Form nicht einmal in den Mund. Sie bevorzugt es, Fakten und das Tun der Handelnden zu benennen und zu bewerten: „Wenn Politik um das Vertrauen der Finanzmärkte buhlen muss, was ist das für eine Demokratie?“, ruft sie in den Saal. „Die Politik soll das Vertrauen der Menschen erwerben.“ Riesenapplaus. In begrenztem Rahmen müssten die Staaten Geld von der Zentralbank erhalten, um nicht völlig vom „Diktat der Finanzmärkte“ abhängig zu sein. Europaweit müsse ein Schuldenschnitt gemacht werden – mindestens in der Größenordnung, wie die Schulden auf Bankenrettung zurückgehen.
Wagenknechts Fazit: Die extreme Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung muss überwunden werden: „Wir als Linke wollen eine andere Eigentumsordnung.“ Die Eurokrise sei in Wahrheit eine Systemkrise – des Kapitalismus, meint sie. „Nicht die kleinen Leute der Südländer sind die Gegner, sondern die oben“, ruft Wagenknecht. Und: Die Deutschen sollten sich wie Griechen, Spanier und Franzosen viel deutlicher zu Wort melden „und sich nicht alles gefallen lassen, wenn sich etwas ändern soll“. Frenetischer Applaus.
Sahra Wagenknecht hat den Zuhörern aus der Seele gesprochen. Dafür wird sie mit stehenden Ovationen gefeiert, nicht nur von Parteigenossen. Es sind auch viele Nichtmitglieder da. Als die Rednerin die kleine Bühnentreppe hinabsteigt, ist sie sofort umringt von Fans und Autogrammjägern. Sie signiert Bücher und Karten, steht für Handyfotos zur Verfügung. Sahra Wagenknecht – Superstar der Linken.